Wer Grenzen überschreiten möchte, ist in den Pyrenäen richtig.
Der Himmel leuchtet an diesem Augustmorgen in schönstem Yves-Klein-Blau. Die Sonne hat hier in den Ostpyrenäen in der Früh auch auf 2000 Metern Höhe richtig Kraft. Bei Sonnenaufgang haben wir uns, noch dick eingepackt, an der katalanischen Berghütte Refugi Ulldeter auf den Weg gemacht. Nun nutzen wir die erste Verschnaufpause an der Skistation Vallter 2000, um uns vor dem Aufstieg auf die Hochebene Plan de Camp Magre ordentlich mit Sonnenschutz einzucremen.
Aus dem Lautsprecher des Liftgebäudes tönt blechern Après-Ski-Musik – das lokale Pendant zum Anton aus Tirol. Der große Parkplatz unterhalb der Liftanlage füllt sich mit Tagestourist*innen. Man hört Französisch, Spanisch und Katalanisch – auch mal durcheinander, je nach Zusammensetzung der Wandergruppen. Die Bar hat gerade erst geöffnet. Die Männer hinterm Tresen wirken noch müde. Doch ein zweites Frühstück muss sein, bevor es wieder raus geht aus der Zivilisation und in Richtung Berg-Einsamkeit. Wandern mit Rucksack macht hungrig. Und nicht immer sind Bocadillos, Rührei und Croissants in Reichweite. Jeder packt sich noch einen Schokoriegel und eine Limo als Notration ein. Dann geht es steil hinauf auf den breiten Bergrücken, auf dem die Grenze zwischen Frankreich und Spanien verläuft. Während die Tagestourist*innen leichtfüßig hochklettern, zwingen die schweren Rucksäcke uns zur Langsamkeit. Schlafsack und Zelt, Essen und Wasser – die ganz große Ausrüstung ist kein Luxus, sondern notwendig in dieser weitläufigen Gebirgsregion, in der man häufig von Gewittern überrascht wird und der Weg zur nächsten Hütte weit ist.
Schnell ist die Baumgrenze erreicht. Dann ändert sich die Landschaft: Statt Fels und schroffer Abbrüche öffnet sich der Blick über weites, welliges Hügelland – Grenzland. Der Weg ist im steinigen Untergrund schwer zu erkennen. Doch nette Vorwander*innen haben Steinmännchen hinterlassen, die schon von Weitem zu sehen sind.
Grenzgänger
Im Norden liegt Frankreich, im Süden Spanien – wer in den Pyrenäen wandert, weiß oft nicht, in welchem Land er sich gerade befindet. Heute ist eindeutig: Wo das Wetter schön ist, ist Frankreich. In Spanien haben große Gewitter seit Tagen viel Regen auf die Südflanke des Roca Colom geschüttet. Die heftige Sonneneinstrahlung sorgt nun dafür, dass diese Feuchtigkeit in Form dicker weißer Wolken aus dem Tal heraufquillt und den Kamm immer wieder in Nebel hüllt. Besorgt beobachten wir die Wetterentwicklung: Verwandeln sich die üppig quellenden Blumenkohlwolken in aggressive Gewittertürme oder fallen sie schnell wieder in sich zusammen? Der Wettergott ist an diesem Tag mit den Wandernden: Das übliche Nachmittagsgewitter bleibt aus, und wir können die Route ganz oben auf dem Kamm weiterverfolgen.
Irgendwann lässt die Kraft nach. Zwei weitere Stunden Wanderung und 900 Höhenmeter Abstieg bis zur nächsten Hütte sind heute nicht mehr zu schaffen. Gut, dass die Zelte im Rucksack dabei sind. Auf einer Hochfläche mit bester Aussicht auf den Pic du Canigou – den Watzmann der Ostpyrenäen – schlagen wir das Nachtlager auf. Das Abendessen fällt eher mager aus. Doch Kälte und Müdigkeit treiben uns sowieso schnell in die Zelte. Schade eigentlich, denn die Berge im Abendlicht, der aufgehende Mond und der sternenklare Nachthimmel sind ein besonderes Erlebnis.
Der kleine gelbe Zug
Nach langem Abstieg ins französische Vallée de la Têt und einem Regenerationstag mit viel Essen und viel Schlafen machen wir uns auf den Weg zurück nach Spanien. Die Wanderroute durchs Têt-Tal heißt "Von Bahnhof zu Bahnhof". Der Weg trifft immer wieder auf die Strecke einer der bekanntesten französischen Schmalspurbahnen: "Petit Train Jaune". Der "Kleine gelbe Zug" ist fast schon ein touristisches Markenzeichen der Region. Längst hat er sein hundertstes Jubiläum gefeiert. Die Sommergäste lieben die offenen Aussichtswagen und fahren damit von Perpignan an der französischen Küste bis La Tour de Caroll an der spanischen Grenze. Außerdem liegen der berühmte Solarofen von Font-Romeu und die beiden Weltkulturerbe-Städte Villefranche und Mont-Luis an der Strecke. "Alle Züge ausverkauft" steht auf einem handgeschriebenen Zettel, der am Fenster des Schalters im Bahnhof von Villefranche klebt. Das gilt jedoch nur für das günstigere Touristen-Tagesticket für Hin- und Rückfahrt. "Sie sind Reisende", stellt der Schaffner mit Kennerblick auf die großen Rucksäcke fest und rückt noch ein paar Tickets für den übervollen Zug heraus.
Über große und kleinere Brücken und durch unzähliche Tunnels arbeitet sich die kleine Bahn bergauf. Am Bahnhof Bolquère kreuzt der französische Pyrenäen-Fernwanderweg GR 10 die Bahnlinie. Ein guter Startpunkt für eine weitere Mehrtageswanderung über die Hochebene Plan de Barres und durch das Seenplateau der Lacs de Bouillouses hinauf zum Gipfel des Pic du Carlit.
Jeder Tag erschließt eine neue Landschaft: der Oberlauf des Flusses Têt mäandert durch grüne Wald- und Wiesenlandschaft. Die Bouillouses-Seen liegen kühl und klar mitten in einer unvergesslichen Felslandschaft. Über allem thront der Pic du Carlit, der Wanderer nach hartem Aufstieg mit einem einmaligen Rundumblick über die gesamte Region und die Seen an seinem Fuß belohnt. Frankreich, Spanien, Katalonien – von hier oben ist alles ein harmonisches Ganzes.