"Ich bin in Wiesbaden geboren", bekennt Javi, der Taxifahrer, auf halber Strecke vom asturischen Städtchen Cangas de Onis ins Bergdorf Amieva. Von Amieva aus wollen wir unsere Überquerung der Picos de Europa wagen – von Asturien nach León. Als Javi zwei Jahre alt war, trieb seine Eltern das Heimweh aus Deutschland zurück nach Asturien. Mit einer weiten Geste verweist Javi auf die beeindruckende Berglandschaft, die durch die Windschutzscheibe zu sehen ist. "Das hier hat meinen Eltern gefehlt", erklärt er. "Das hier" sind die westlichen Ausläufer der Picos de Europa. Das Bergmassiv, das inzwischen vollständig zum Nationalpark erklärt ist, erstreckt sich über die Regionen Asturien, Leon und Kantabrien in Nordspanien.
Unter Bergsteiger*innen haben die kantigen Gipfel auch international eine gewisse Berühmtheit erreicht. Bei alpinen Laien ist die Region kaum bekannt, obwohl Landschaft, Wanderwegenetz und Übernachtungsangebote äußerst attraktiv sind. "Über 90 Prozent unserer Gäste hier sind Spanier", sagt Javi. "Viele kommen im Sommer aus Mallorca und Andalusien hierher, weil das Klima angenehmer ist und sie den vielen Tourist*innen entkommen wollen." Hier gibt es keinen Massentourismus. Nicht einmal vier Prozent der 57 Millionen Spanientourist*innen buchen den Norden.
Inzwischen hat es sich eingenieselt. Die Wolken sind tief ins Tal gesunken. Nur ungern lässt Javi seine Fahrgäste aussteigen. "Seid vorsichtig", rät er, "und ruft mich an, wenn ihr Schwierigkeiten habt. Ich hole euch überall ab!"
Der aus groben Steinen gepflasterte Wanderweg ist schlüpfrig, die Sicht reicht gerade bis zur nächsten Biegung. Mit schweren Mehrtagesrucksäcken geht es mühsam bergauf. Ein paar Kühe sind die einzigen Lebewesen, die der Nässe trotzen. Der alte Handelsweg führt aus dem ehemaligen Königreich Asturien über den Pass ins benachbarte León. "In León scheint die Sonne", hatten die Einheimischen am Morgen versprochen. Denn die Picos de Europa fungieren als Wetterscheide zwischen der Küste und dem Inland. Während die dem Meer zugewandte Nordflanke üppig grün ist und häufig hinter Wolken verschwindet, ist der Himmel auf der Südseite meist blau.
Plötzlich taucht ein Trupp Bauarbeiter aus dem Nebel auf. Mit langen Capes bekleidet stehen sie auf ihre Schaufeln und Spitzhacken gestützt und staunen die Gestalten an, die an einem solchen Tag freiwillig wandern gehen. Ihre Arbeit hier im Nebel verdanken sie dem "Plan E", mit dem die spanische Regierung gegen die Wirtschaftskrise ankämpft. Viele kleinere und größere Infrastrukturmaßnahmen sollen die rasant steigende Arbeitslosigkeit eindämmen. Hier hat die Kommune 150.000 Euro bekommen, um den von Regen und Frost zerstörten Weg instand zu setzen. Kopfschüttelnd und mit einem knappen Gruß lassen die Bauarbeiter die Wandergruppe an sich vorüberziehen. Erst als diese schon fast wieder im Nebel verschwunden sind, ruft einer noch eine Warnung hinterher: "Passt auf, dass ihr im Nebel den Weg nicht verliert!"
Verloren im Nebel
Einige Kilometer weiter passiert es: Auf einer Hochweide sind die Wegspuren so zertrampelt, dass kein Pfad mehr auszumachen ist. Die umliegenden Berge sind in den Wolken verschwunden, Wegweiser oder Steinmänner, die vorher hin und wieder Orientierung gegeben hatten, gibt es nicht mehr. León kann nicht weit sein, trotzdem ist von blauem Himmel nichts zu sehen. Umkehren? Zelt aufbauen? Javi mit dem Taxi zu Hilfe zu rufen ist definitiv keine Lösung. Schließlich weist ein Stacheldrahtzaun den Weg. Er markiert die Grenze zwischen den Königreichen Asturien und León. Ein unscheinbares Holzgatter ist der Übergang zwischen den Welten. Dahinter findet sich umgekippt endlich der rettende Wegweiser. Tatsächlich bessert sich nun auch das Wetter. Ab und zu reißt der Nebel auf und ein paar Sonnenstrahlen kommen durch. Der Blick ins Tal ist endlich frei. Aber es dauert noch bis zum späten Abend, bis das Refugio Vegabaño endlich in Sicht kommt. Der Hüttenwirt ist nicht sonderlich begeistert, dass so spät noch Gäste anklopfen. Aber seine Frau hat Mitleid mit uns und zaubert in wenigen Minuten ein leckeres Drei-Gänge-Menü.
Am nächsten Morgen macht León seinem Ruf als Schön-Wetter-Provinz alle Ehre. Staunend stehen wir vor der gezackten Bergkulisse, die am Vortag so vollständig im Nebel versteckt war. Mit jedem Kilometer und jedem neuen Blickwinkel wird das Panorama gewaltiger. Im gemütlichen Bergörtchen Posada de Valdeón legen wir noch einmal einen Zwischenstopp ein und übernachten wie einige andere Wander*innen in der Pension Begoña. Eine kleine, ältere Frau im schwarzen Witwenkleid sorgt dafür, dass sich morgens keiner hungrig auf den Weg machen muss. Sie bäckt, frittiert und bruzelt in der Küche, bis sich Kuchen, Krapfen, Tostadas, Tortillas und Eier auf den Tischen türmen. Der Nachschub rollt - ob die Gäste wollen oder nicht. Schließlich macht die Köchin mit einer Porzellankanne mit frisch gebrühtem Kaffee die Runde und kontrolliert, ob auch ordentlich gegessen wird.
Sehr satt und ein bisschen faul traben wir den Weg hinab zur Cares-Schlucht, der berühmtesten Naturattraktion in den Picos. Wo Ost- und Westmassiv aufeinanderprallen, haben Ingenieur*innen beim Bau einer Wasserleitung dem Gebirge einen Weg abgerungen. Immer steil am Abhang entlang geht es von der Sonnenseite wieder zurück Richtung Küste - am Horizont zeigen sich die ersten Wolken.