"Sind Bären eigentlich tag- oder nachtaktiv?“, fragt Andreas, als es am Hang neben uns laut im Gebüsch raschelt. Wir bleiben stehen, spitzen die Ohren und suchen mit den Augen den Hang ab. „Da“, flüstere ich, „ein Bär!“ Wir beobachten den jungen Braunbären – inzwischen hat er auch uns entdeckt – dabei, wie er den Hang hinaufklettert und hinter einem Fels verschwindet.
Wir befinden uns auf einem Waldweg mitten im Nationalpark Nördliches Velebit in Kroatien. Es ist der erste Tag unserer Fernwanderung. Vor zwei Stunden sind wir von der Berghütte Zavižan aus gestartet. Der Plan: In den kommenden vier Tagen den 57 Kilometer langen Premužić Trail bis zum kleinen Bergort Baške Oštarije erwandern. Anschließend soll es weitere fünf Tage und knapp 60 Kilometer auf dem Velebit Hiking Trail bis zur berühmten „Winnetou“-Schlucht Paklenica im gleichnamigen Nationalpark gehen.
Wandern mit großem Rucksack im Velebit-Gebirge
Während Andreas viel Wandererfahrung hat, ist es für mich die erste längere Tour mit großem Gepäck: Zelt, Isomatte, Schlafsack, Kleidung, der Gaskocher – und vor allem Essen für zehn Tage. Im Velebit ist die Infrastruktur für Wanderer spärlich, die wenigsten Hütten sind bewirtet. Zunächst wandern wir durch verwunschene Waldstücke, in denen Laubbäume für Schatten und eine angenehm klare und kühle Luft sorgen. Später führt der Weg immer häufiger aus dem Wald hinaus in die Sonne. Die Landschaft wird steiler und steiniger. Große, weißgraue Karstfelsen und spitze Nadelbäume prägen das Bild. So schön die Felsen aus Karstgestein anzusehen sind, so beschwerlich machen sie die geplante Tour: Denn Karst ist wasserdurchlässig, sodass jegliches Gewässer sofort in den Tiefen des Felses verschwindet. Wasser ist Mangelware im Velebit. Die Menschen, die hier leben, trinken das Regenwasser, das sie auffangen. So erklärt es uns Biologin Tatjana, die einen kleinen Shuttle-Service betreibt und Wanderer wie uns von der Küste hinauf zur Berghütte Zavižan auf 1.594 Meter bringt.
Vor der Hütte sitzt eine Gruppe alter Männer beim Kräuterschnaps. Als Tatjana von unserem Vorhaben erzählt, bis zur Paklenica-Schlucht zu wandern, kommt Leben in die alten Herren. Auf dem zweiten Teil unserer Tour seien einige Hütten geschlossen, sagen sie. Wasser gibt es womöglich auch nicht. Einer kritzelt schwer nachvollziehbare Wegbeschreibungen zu alternativen Wasserstellen auf kleine Zettel, dazu seine Handynummer und die 112 – „für Hilfe.“ Die ersten Zweifel am zweiten Teil der Wanderung sind gesät.
Für uns bedeutet die Wasserknappheit: Wir verlassen die Hütte mit sechs Litern Wasser im Rucksack und müssen es bis zum Abend zur nächsten Hütte schaffen, an der es Regenwasserbehälter gibt.
Blick über die Kvaner Bucht
Auf dem Premužić Trail sind die Abstände zwischen den Hütten gerade so zu schaffen. Am ersten Abend kommen wir müde, aber glücklich an der Wanderhütte Alan an. Wir füllen unsere Wasservorräte auf, werfen den Gaskocher an und belohnen uns mit Kartoffelknödeln in Steinpilzsauce – alles in Pulver- und getrockneter Form eigens hierher getragen. Nach dem anstrengenden Wandertag macht sich in mir ein Gefühl von Dankbarkeit breit: für ausreichend Trinkwasser und für ein leckeres Essen – Dinge, an die ich im Alltag kaum einen Gedanken verschwende.
Tag zwei bis vier sind vor allem wegen des schweren Gepäcks und der langen Tagesetappen eine Herausforderung, obwohl der Weg jetzt einfacher zu gehen ist: Die Karstfelsen sind nicht mehr ganz so hoch, Waldwege wechseln sich mit hügeligen Wiesenabschnitten und steinigen, aber meist flachen Passagen ab. Immer wieder öffnet sich der Blick über die Berge bis hinunter zum Meer auf die Kvarner Bucht mit ihren vielen langgezogenen Inseln. An den Aussichtspunkten machen wir Pause, setzen die schweren Rucksäcke ab und bewundern das intensive Spiel der Farben: um uns weißgraue Felsen und grüne Wiesen, über uns der hellblaue Himmel und in der Ferne das tiefblaue Meer, getupft mit sandgelben Inseln.
Tiere beobachten
Einem Bären begegnen wir nicht mehr, dafür machen wir auf dem Weg mit allerlei anderen Tieren Bekanntschaft: mit schimmernden Käfern, Schmetterlingen, Raubvögeln – und mit einer Hornotter. Sie ist eine der giftigsten Vipernarten Europas. Gut, dass sie sich einige Meter vom Wegesrand entfernt sonnt und schnell unterm nächsten Stein verschwindet, als wir uns nähern.
Nach dem zweiten Wandertag spüre ich die Anstrengung im ganzen Körper. Es scheint mir wenig verlockend, noch tagelang immer weiter zu müssen – zur nächsten Hütte, zur nächsten Wasserstelle, wenig trinken, nicht duschen. Ich würde das Zelt gerne an einem klaren Bach oder See aufschlagen, mich dort abkühlen und einfach bleiben.
Am vierten Tag erreichen wir den kleinen Bergort Baške Oštarije: Wir haben den Premužić Trail geschafft! Die Nacht auf einem echten Campingplatz und die heiße Dusche sind ein willkommener Luxus.
Über Nacht in der Höhle
Am nächsten Morgen beschließen wir beim Blick auf die Zettel mit den wilden Wegbeschreibungen: Den zweiten Teil der geplanten Tour, raus aus dem Nationalpark Velebit und hinüber in den Nationalpark Paklenica bis zur berühmten Schlucht, möchten wir uns nicht zumuten. Stattdessen fahren wir zur Küste hinunter, kürzen ein Stück mit dem Bus ab und starten zu Fuß Richtung Mala Paklenica – der kleineren der beiden Schluchten im Nationalpark. Von dort aus wollen wir dann weiter zur Hauptschlucht, der Velika Paklenica („große Schlucht“) und diese wie geplant hinunterwandern. Als wir am Eingang der Mala Paklenica ankommen, ist es früher Nachmittag, und wir haben schon einige Kilometer in praller Sonne zurückgelegt. Die Umstellung von der kühlen Bergluft auf die eher schwüle Hitze an der Küste macht uns zu schaffen. Sollen wir den Aufstieg heute noch wagen? Ein Schild weist die Gehzeit durch die Schlucht bis zur Hütte mit fünf Stunden aus. Eine Quelle soll es an der Strecke auch geben. Wir gehen los.
Was wir nicht wissen: Der Weg wird immer steiler und ist schwer zu gehen. Zunächst führt er über Geröll, das sich zu immer größeren Felsbrocken auswächst. Der Wanderweg wird zum Klettergelände – mit Gepäck nicht nur für mich eine echte Herausforderung. Nach zwei Stunden erreichen wir die „Quelle“: eine Tropfsteinhöhle, in der Plastikbehälter am Boden das von den Felszapfen tropfende Wasser auffangen.
Wir füllen unsere Trinkflaschen auf und machen uns erschöpft an den weiteren Aufstieg. Doch am nächsten großen Felsen verlassen mich die Kräfte. Bis zur Dunkelheit werden wir es nicht aus der Schlucht hinaus und bis zur Hütte schaffen. Wir gehen zurück zur Höhle und finden im Höhleneingang einen Platz, der wenigstens annähernd flach genug für unser Zelt ist.
Fledermaus und Grottenlurch
Die Höhle teilen wir mit ihren Bewohnern: Fledermäuse, Grottenlurche, Feuersalamander – auch ein Skorpion ist dabei, den Andreas mir erst einmal rücksichtsvoll verschweigt. Wir schlafen wenig und unruhig. Aber die Nacht bringt trotzdem genug Erholung, um es am nächsten Tag den großen Felsen hinauf und schließlich aus der Schlucht hinaus zu schaffen. Ein tolles Gefühl, es geschafft zu haben, aber zum Jubeln fehlt mir die Kraft.
Nun geht es weiter über eine Hochebene bis zur Velika Paklenica. Die „Große Schlucht“ macht ihrem Namen alle Ehre. Der Blick in die Tiefe ist überwältigend und lässt all die Mühen und die abenteuerliche Nacht vergessen. Da müssen wir hinunter. Wir genießen noch eine Weile den Blick, bevor wir auf einem schmalen Serpentinenweg hinabsteigen.
Zurück in die Zivilisation
Unten angekommen landen wir mitten im Trubel der Bustouristen, die den unteren Teil der Schlucht in Flip-Flops erwandern. Mit unseren riesigen Rucksäcken fühlen wir uns wie Außerirdische. Wir nehmen den Bus in die Küstenstadt Zadar und mieten dort ein Appartement. In Zadar finden wir die „Garden Lounge“, ein komfortables Restaurant mit begrünter Terrasse und schicken Sitzmöblen direkt oben an der Stadtmauer, wo man uns vegane Köstlichkeiten und Cocktails zaubert.
„Da hinten haben wir vor ein paar Tagen einen Bären getroffen“, sagt Andreas zu mir und zeigt über die Bucht auf den gegenüberliegenden Velebit-Gebirgszug. „Und heute morgen waren wir noch in der Höhle und haben uns die Schlucht hochgekämpft“, füge ich hinzu. Dann lasse ich mich von dem wohligen Gefühl überwältigen, mitten im Luxus zu sitzen, Essen und Trinken einfach zu bestellen – und mir die Berge von unten anzuschauen.