Die alte Frau lacht uns aus. Ganz langsam kämpfen wir uns mit den schwer bepackten Rädern den kurzen Steilanstieg hoch, Kopf an Kopf mit der Fußgängerin am Straßenrand. Sie wirft einen abschätzenden Blick auf unsere Räder. „Sans électricité?“, kommentiert sie, was sich so anhört wie „Schön blöd!“ oder: „Selber schuld, dass ihr so ackert“. Womit sie nicht ganz unrecht hat. Wer sich mit einfachem Tourenrad und großem Gepäck nach Korsika auf Radreise begibt, der weiß: Es kann Berge geben.
Korsika per Rad – man muss es schon wollen
„Heute müssen wir nur über einen Berg“, sagt mein Begleiter und Tourguide, als wir morgens in Bastia von der Fähre rollen. Erster Tag, erste Tour: Bevor wir unsere Leistungsfähigkeit auf die Probe stellen, frühstücken wir erst mal auf der Place Saint Nicola mit Blick auf den Hafen. Dann schwingen wir uns auf die voluminösen Räder und fädeln uns ein in den Morgenverkehr. Ohne Aufwärmphase geht es direkt bergauf. Schon bevor wir die Stadtgrenze von Bastia erreicht haben, bin ich mir nicht mehr sicher, ob Korsika mit dem Rad eine gute Idee war. Der Bergrücken Cap Corse, der Bastia von St. Florent trennt, ist mit 500 Höhenmetern für korsische Verhältnisse vergleichsweise bescheiden. Aber die Straßen sind heftig steil – und flache Stücke, auf denen man mal Luft holen könnte, gibt es nicht. Dafür wird der Ausblick Höhenmeter für Höhenmeter erhebender. Als ich im kleinen Örtchen Cardo oberhalb von Bastia vor der Kirche auf einer Bank kollabiere, macht mich die Aussicht sofort wieder munter: Über Häuser und Gemüsegärten hinweg reicht der Blick weit hinaus aufs tiefblaue Meer, darüber ein Mittelmeerhimmel aus dem Bilderbuch. Genauso habe ich mir die Radtour auf Korsika vorgestellt – minus der Anstrengung. Mit dem Stoizismus eines Arbeitspferdes kurble ich in Zeitlupe bergan. Kurz vor dem Kamm steht ein Foodtruck am Straßenrand. Der Besitzer sieht uns heranstrampeln und erfasst intuitiv die Lage. Ruckzuck trägt er zwei Stühle, einen kleinen Tisch und eine Flasche eiskaltes Wasser in den Schatten einer großen Kastanie. Wir bestellen Kaffee, Orangina und die große korsische Spezialitätenplatte: aromatischer Käse, köstliche Feigenmarmelade, Salami, Schinken, Honig und frisches Holzofenbrot. Warum habe ich gerade nochmal so gejammert? Wieder lassen wir uns vom Blick verzaubern, der auf dieser Höhe schon einen großen Teil der Ostküste und die ersten hohen Berge im Landesinneren erfasst, und freuen uns, dass wir den höchsten Punkt unserer Tagesetappe schon fast erreicht haben.
Der beste Aussichtspunkt erwartet uns aber erst kurz hinter dem Kamm: Zu unseren Füßen liegt die kreisrunde Bucht von St. Florent, umrahmt von der grünen Hügellandschaft der Region Patrimonio – einer Weinregion, die vom Hinterland des Cap Corse bis zur Küste reicht. Von der Hauptstraße biegen wir auf einen ruhigen, wenn auch steinigen Landwirtschaftsweg ab und holpern zwischen Weinreben bergab Richtung Küste. Die meisten Weingüter in der Region Patrimonio produzieren Bioweine. Viele arbeiten mit autochthonen Rebsorten, die in diesen heißen und trockenen Hanglagen heimisch sind. Besondere Spezialität der Region ist ein kräftiger und goldgelber Muscat. Nach Abendessen und Mondspaziergang am Strand schlüpfen wir ziemlich müde in die Schlafsäcke. Es gab schon ganze Urlaube, in denen wir weniger erlebt haben.
Korsische Radroute GT 20
Als wir am nächsten Tag von der Küste aus weiter ins Landesinnere radeln, halten wir verblüfft vor einem Wegweiser mit Fernradweg-Beschilderung an: GT 20 steht da und eindeutig ein Fahrradsymbol. Das kleine Inlandsträßchen, das den Seitentälern des Ostriconi hoch hinauf in die Berge folgt, sieht viel versprechend aus. Wir biegen von der Hauptstraße ab und finden uns mitten in einsamer Natur und auf dem perfekten Radweg wieder. Ganz entspannt radeln wir nebeneinander bergauf, unterhalten uns, solange die Puste reicht, und genießen die autofreie Zone. Aber leider hält der GT 20 nicht, was er auf diesem Abschnitt hoch nach Novella verspricht. Oberhalb des Ortes verweist die Beschilderung wieder auf die Landstraße, die die Radler dann mit Autos, Motorrädern und Kühen teilen. Von allen Verkehrsteilnehmern sind die Kühe die entspanntesten. Wie auch Schafe, Schweine und Ziegen bewegen sie sich unbehindert von Weidezäunen in der gesamten Bergregion.
Immer wieder begegnen wir in den nächsten Tagen der GT20-Beschilderung. Sie begleitet uns von Novella aus erst über den Pass und dann hinunter ins Asco-Tal. Auch die vor allem bei Motorrad- und Autofahrer*innen beliebte Panoramastrecke am Gebirgsfluss Golo entlang, die durch den Canyon de la Ruda und am Calacuccia-Stausee vorbei über 40 Kilometer hoch hinauf zum Col de Vergio führt, ist als Radroute beschildert und mit motivierenden Kilometermarkierungen mit Hinweis auf die aktuelle Straßensteigung ausgestattet. Nach der langen und heißen ersten Streckenhälfte durch die schroffe Golo-Schlucht genießen wir den ruhigeren Endaufstieg durch schattige Eichen- und Pinienwälder.
Steile Küste zwischen Porto und Calvi
Ein weiteres Highlight auf dem GT 20: die spektakuläre Küstenstrecke zwischen Porto und Calvi. Ich bin froh, dass wir von Süden nach Norden unterwegs sind und nicht umgekehrt. So kann ich mich immer schön Richtung Felswand orientieren und muss nicht am Rand der Steilküste entlang balancieren. Der rote Fels, das in unterschiedlichen Türkistönen schimmernde Meer, weiße Strände und grüne Macchia sind typisch für die UNESCO-Welterbe-Region rund um den Golf von Porto. Heute kommen wir nur sehr langsam voran. Wir tauschen Radler- gegen Badehose und lassen den Tag in der Strandbar bei Rosé und korsischen Spezialitäten vorbeiziehen.
Die letzte Teilstrecke des Tages von Calvi nach Algajola fordert noch einmal alles. Es ist Rushhour. Um dem Verkehr wenigstens ein bisschen auszuweichen, wählen wir die Strecke über das Bergdorf Lumio. Ein paar Höhenmeter extra, dafür werden wir – wieder einmal – mit einem fantastischen Blick über die ganze Westküste belohnt. Das Bergdörfchen hat sich dank seiner besonderen Lage zum Wohnort für reiche Calviner*innen entwickelt. Von oben kann man den Glanz der ummauerten Anwesen mit alten Villen und gepflegten Gärten erahnen.
In Algajola wartet Maud auf uns. Sie hat in der historischen Burg im Ortskern ein stilvolles Bed & Breakfast eingerichtet. Wir genießen den Luxus des großen weichen Betts und den kühlen Rosé auf der Dachterrasse mit Blick auf Meer und Berge – alles, was diese Insel ausmacht.