Diese Reise hat gleich zwei Premieren: Andreas und ich machen unsere erste gemeinsame Radreise, und wir nehmen zum ersten Mal die Räder im Zug mit. Die Fahrt von Brühl über Köln nach Flensburg mit zwei mal Umsteigen verläuft reibungslos. Alle Züge sind pünktlich, wir finden im Fahrradabteil schnell die reservierten Plätze, und an allen Bahnhöfen funktionieren die Aufzüge. Unsere Sorge, die bepackten Fahrräder Treppen hinaufwuchten zu müssen: unbegründet. Mitreisende helfen beim Ein- und Ausladen der Räder. Und schon ist man mitten im Gespräch: Der fahrradbegeistete Sitznachbar schwärmt von seiner eigenen Tour entlang der Ostsee: Er war durch Polen, Litauen, Lettland und Estland bis in die finnische Hauptstadt Helsinki unterwegs.
Wir wollen Dänemark kennenlernen und haben uns dafür den neuen Ostseeradweg ausgeguckt, der sich wie eine 8 über die dänische Inselwelt legt. Dreieinhalb Wochen und knapp 1.000 Kilometer liegen vor uns. Etwa auf der Hälfte der Strecke werden wir einen Abstecher nach Kopenhagen machen, wo wir unseren Freund Dimi treffen - ab dann fahren wir zu dritt weiter auf der zweiten Hälfte der Acht.
Moin Ostsee!
In Flensburg sagen wir das erste Mal der Ostsee „Moin“ und starten bei Nieselregen Richtung Deutsch-Dänische Grenze — gut, dass unsere Fahrradtaschen wasserdicht sind und wir Regensachen dabei haben. Hinter der Grenze fahren wir durch Wälder, kleine Orte, über Wiesen und Felder. Außer Kühen und Schafen begegnen wir fast niemandem. Wir genießen die Weite, die Ruhe, die frische Luft, die Bewegung, fahren Slalom, einfach weil genug Platz dafür ist. Uns kommt ein Lied von Achim Reichel in den Kopf, das wir mal bei der Critical Mass gehört hatten. Lauthals singen wir „Fahrrad fahr‘n, Fahrrad fahr’n...“ – es entwickelt sich erst zum Ohrwurm und dann zu einer Art Hymne der gesamten Reise.
Camping und Radwege in Dänemark
In Dänemark existiert ein paralleles Straßenverkehrs-System für Radfahrer: Vom Autoverkehr getrennt verlaufen zweispurige Fahrradwege. Alles ist gut verknüpft mit Abbiegespuren und eigenen Fahrradampeln. Es gibt sogar eigene Fahrradkreisel, die Fahrradwege in alle Richtungen verbinden. Wir sind so begeistert, dass wir ein paar Runden drehen im Kreisel bevor wir die richtige Ausfahrt nehmen. So fühlt es sich also an, wenn Radfahrer als Verkehrsteilnehmer ernst genommen werden. Immer wieder sprechen wir abends beim Essen und Entspannen darüber wie gut und sicher man in Dänemark mit Rad vorwärts kommt und wünschen uns, dass deutsche Politikerinnen und Politiker einfach mal ins Nachbarland schauen und sich das abgucken.
Die Campingplätze am dänischen Ostseeradweg sind mal größer und mal kleiner, mal minimalistisch, mal mit üppiger Infrastruktur wie einem großen Gemeinschaftsraum mit Küche oder Sportanlagen. Im Reiseführer und auf unserem GPS-Gerät sind alle Campingplätze entlang der Route eingezeichnet. Abends überlegen wir, wie weit wir am nächsten Tag fahren möchten und welchen Platz wir ansteuern. Unterwegs kaufen wir frische Sachen ein fürs Abendessen. Wir leben vegan. Selbst kochen auf dem Campingkocher ist für uns am einfachsten.
Hey Copenhagen!
Nach sieben Etappen und 500 Kilometern zu zweit, machen wir uns von der Stadt Naestved mit dem Zug auf den Weg nach Kopenhagen. Die Fahrradmitnahme in der Regionalbahn ist unkompliziert und nach einer guten Stunde erreichen wir ohne Umstieg den Kopenhagener Hauptbahnhof. Abends treffen wir unseren Freund Dimi, der samt Fahrrad mit dem Nachtbus aus Düsseldorf angereist ist.
Zwei Tage gönnen wir uns in der dänischen Hauptstadt. Wir radeln zu den Sehenswürdigkeiten und durch die Parks, probieren vegane Restaurants aus und verstehen sofort, warum Kopenhagen als fahrradfreundlichste Stadt der Welt gilt: Breite, gut markierte und vernetze Radwege sind normal. Die Ampelschaltungen sind für Fahrrad-Geschwindigkeiten optimiert. Dank grüner Welle fahren wir ohne Unterbrechungen kilometerweit. Genial ist die „Cykelslangen“ (Fahrradschlange), eine eigene Fahrradbrücke, die sich über das innere Hafenbecken schlängelt. Seit den 1970er Jahren fördert Copenhagen den Radverkehr. Kein Wunder, dass rund 6o Prozent der Bewohner mit dem Rad zur Arbeit, Uni oder Schule pendeln. Die Stadt setzt sich weitere Ziele: Bis 2025 will sie die erste CO2-neutrale Hauptstadt der Welt sein. Dimi ist vom Fahrradfahren in Dänemark genauso begeistert wie wir und stimmt schon nach kurzer Zeit in unsere Urlaubshymne ein: „Fahrrad fahr’n Fahrrad fahr’n …“
Zu den Kreidefelsen von Møn
Unser zweiter Teil auf dem Ostseeradweg beginnt mit stürmischem Wetter. Wir strampeln gegen den Wind an. Die starken Böen bringen uns immer wieder aus dem Gleichgewicht. Beim Überqueren der Brücke zur Insel Møn müssen wir sogar absteigen, damit uns der Sturm nicht umpustet.
Auf Møn haben wir nicht nur weiter Gegenwind. Es geht bergauf und dichter Nebel zieht auf. Wir können nur noch wenige Meter weit schauen. Der Nebel schluckt alle Geräusche und wir fühlen uns beim Radeln durch die einsamen Feldwege wie in einer anderen, mystischen Welt. Bis zum Abend haben wir die Insel überquert und erreichen einen Campingplatz ganz im Osten. Er liegt mitten in der Natur und die Gegend ist als Sternenpark ausgezeichnet. Leider verwehrt der Nebel in dieser Nacht den Blick auf einen funkelnden Sternenhimmel. Vermutlich hätten wir ihn ohnehin verpasst. Nach dem anstrengenden Tag fallen wir nach dem Essen erschöpft in die Zelte und schlafen sofort ein.
Am nächsten Morgen sieht die Welt ganz anders aus: Der Nebel hat sich verzogen und die Sonne scheint bei strahlend blauem Himmel. Vom Campingplatz aus starten wir einen Tagesausflug zu den berühmten Kreidefelsen-Klippen von Møn. Oben angekommen, schauen wir über die Felsen und Laubbäume auf das türkisblaue Meer. Es kommt uns vor, als seien wir über Nacht in ein anderes Land geflogen, dabei hat sich nur das Wetter verändert. Wir steigen hinab zum Strand und freuen uns über Sonne, Wärme und den weiten Blick übers Wasser.
Inselhopping auf Lolland, Langeland und Aerø
In den nächsten Tagen setzen wir mehrmals mit der Fähre über und überqueren die Inseln Lolland, Langeland und Aerø, wo die Wege teilweise kilometerlang direkt am Meer entlangführen. Immer wieder fahren wir auch durch Städchen und Orte, die mit ihren kleinen, bunten Häusern und gepflasterten Straßen das typisch dänische hygge-Gefühl von Gemütlichkeit und Schönheit vermitteln.
Übers Wetter lernen wir: Zu viel Sonne ist auch nicht gut. Auf Lolland fahren wir fast den ganzen Tag lang in praller Sonne direkt am Meer entlang. Kein schattiges Plätzchen in Sicht. Nach dem gescheiterten Versuch, an einer Bank unser Sonnensegel aufzuspannen, entdecken wir zum Glück eine kleine Hütte, die zumindest ein Eckchen Schatten spendet.
Zelten am Meer
In unserer letzten Nacht in Dänemark zelten wir noch einmal ganz nah dran am Meer mit Sonnenuntergang und Wellenrauschen. Am nächsten Morgen verabschieden wir uns von der Ostsee und versprechen, dass wir wiederkommen. Nach dreieinhalb Wochen und knapp 1000 Kilometern überqueren wir die Grenze zurück nach Deutschland. Schmerzlich wird uns bewusst, dass wir uns jetzt von der wunderbaren dänischen Rad-Infrastruktur verabschieden müssen. Fahrrad fahr’n, Fahrrad fahr’n…