Korsika bietet auf kleinem Raum viele unterschiedliche Landschaften – von idyllischer Badebucht bis felsigem Hochgebirge. Wer diese Landschaft mit Kindern erkunden möchte, kann dies von einer festen Unterkunft aus tun, sich von einem erfahrenen Reiseveranstalter unterstützen lassen (siehe Infoskasten) oder sich von den Wanderwegen quer durchs Land leiten lassen.
Wandern mit Kindern – eine Anderswo-Geschichte:
Milena sitzt auf einem Felsbrocken neben dem Abgrund und knüpft ungerührt an ihrem Scoubidou-Bändchen. Eine kräftige Böe hat ihren Rucksack umgepustet, der neben ihr an den Stein gelehnt stand. Er liegt nun gefährlich nah an der Felskante. Aber ich traue mich nicht aufzustehen, um ihn in Sicherheit zu bringen. Zwei Meter entfernt sitze ich auf einem Stein, halte verkrampft den Sohn und den eigenen Rucksack fest und versuche die Panik zu unterdrücken, die in mir aufsteigt. Wir sind auf einem schmalen Felsband gestrandet. Hinter uns geht es steil den Hang hoch, vor uns geht es senkrecht bergab. Was eben noch wie ein Weg aussah, verliert sich in Gestrüpp. Kein guter Moment, um meinen Kindern zu eröffnen, dass ich nicht schwindelfrei bin. Der Wind, der schon in der Nacht heftig am Zelt gerissen hat, hat sich zum Sturm gesteigert. Er ist so heftig geworden, dass wir uns bei jeder Böe hinsetzen müssen, um mit den großen Rucksäcken nicht umgerissen zu werden. Immer wieder sinken die Wolken so tief, dass jede Aussicht im Nebel verschwindet.
Abenteuerurlaub – nur das Nötigste in die Rucksäcke packen, von Ort zu Ort ziehen, durch die einsame Bergwelt wandern, dann wieder faul am Strand liegen: Eine romantische Vorstellung wird mit der Wirklichkeit konfrontiert. Überraschenderweise sind es die Kinder, die damit überhaupt kein Problem haben. Sturm, Abgründe, Durst, Hunger, Hitze? Nebensächlichkeiten, wenn man sich auf dem größten Abenteuerspielplatz des Lebens befindet.
Expedition 1: Start in Corte
Die erste große Expedition startete in Corte, der Hochburg des korsischen Widerstands im gebirgigen Zentrum der Insel. 5 Uhr morgens: Leise, um die Mitcamper nicht aufzuwecken, werden die Zelte eingepackt. Alle müssen helfen. Fröstelnd und gähnend packen die Kinder ihre Schlafsäcke ein. Schnell verschwindet das ganze Durcheinander in den vier Rucksäcken. Zum Glück hat der Bäcker schon offen. Mit einem Stück warmem Baguette in der Hand startet es sich leichter. Am Flüsschen Tavignano entlang führt der Weg in die Berge. Zuerst ist es noch langweilig – der Weg zu flach und zu breit, kein Abenteuer in Sicht. Aber nach gut drei Stunden kommt der Weg zum ersten Mal an den Bach heran, den man schon lange von oben sehen konnte – der ideale Platz für eine längere Pause. Die Erwachsenen sinken geschafft zu Boden und strecken die Beine von sich. Der 10-jährige Jurek und die 11-jährige Milena lassen die Rucksäcke fallen, brechen sich ein Stück Baguette ab und stürmen los, um die Umgebung zu erkunden. Sie springen über die rund geschliffenen Flusssteine, klettern Felstürme hoch und spielen am flaschengrünen Wasser des Gebirgsbachs.
Nur schwer trennen wir uns vom schönen Pausenplatz. Aber der Weg hinauf zum Réfuge A Sega, der Hütte, in der wir übernachten wollen, ist noch nicht einmal halb geschafft. Also schultern wir die Rucksäcke und setzen uns langsam wieder in Bewegung – immer weiter hinauf. Der Weg folgt dem steiler werdenden Hang. Die Felsen schieben sich immer enger heran. Bald gibt es keinen Fluss mehr und keinen Blick zurück ins Tal. Vor uns, hinter uns, über uns – nur noch grauer urzeitlicher Granit. Wir sind Steinzeitmenschen, Trolle, Fantasy-Figuren und fühlen uns ganz allein auf der Welt.
"Guck mal, da springt ein Kind von einem Felsen!" Jurek zeigt mit offenem Mund auf diesen überraschenden Beweis menschlichen Lebens. Wir haben die Hütte erreicht – endlich. Dafür, dass keine Straße hier her führt und wir kaum einem Menschen begegnet sind, ist erstaunlich viel los. Alle erwachsenen Gäste haben eines gemeinsam: Sie können kaum noch gehen. Die wenigen Kinder, denen man den Weg hier herauf zugemutet hat, amüsieren sich dafür umso besser. Hinter der Hütte staut sich der Tavignano zu einem riesigen kreisrunden Naturpool. "Wir waren ohne Kinder schon mal hier", erzählen deutsche Eltern, die mit zwei kleinen Jungs und einer jugendlichen Tochter unterwegs sind. "Nun warten wir seit Jahren darauf, dass sie groß genug sind, um ihnen diesen Platz zu zeigen." Die Familie wird noch zwei Tage bleiben und dann wieder nach Corte hinunter steigen, wo Auto, Zelt und Großeltern warten. Für uns heißt es am nächsten Morgen schon wieder Abschied nehmen. Wir wollen weiter über die Berge bis ans Meer.
Vier Tage später kommen wir im Golf von Sagone an. Wir haben eine hohe Bergkette überquert, auf 1600 Metern gezeltet, einen Regentag durchgestanden, einen Tag lang von einem Apfel und Schokolinsen gelebt, Wildschweine getroffen, ein traumhaftes Hotel in der Einsamkeit entdeckt, korsische Freund*innen gefunden und uns im ersten Supermarkt alles gekauft, was wir schon immer mal essen wollten. So stolz waren wir selten. Jetzt wollen wir nur noch ganz viel Ruhe am Strand.
Expedition 2: Ohne Moos nix los?
Nicht immer läuft alles nach Plan. Die nächste Expedition steht vor der Tür. Mit dem Bus soll es vom Campingplatz in Somalu aus in die Inselhauptstadt Ajaccio gehen. Dort ist ein Tag Bummeln, Bankgeschäfte und Vorräte auftanken eingeplant. Die letzten 60 Euro bekommt die Busgesellschaft für den Abendbus zum Col de Bavella. Der Schreck wartet am Bankautomaten: "Sie haben Ihr Limit überzogen", behauptet dieser frech und weigert sich, die für die Weiterreise nötigen Euros herauszugeben. Das Problem lässt sich nach zahlreichen Telefonaten mit der deutschen Hausbank klären, Geld wird aber frühestens am kommenden Tag wieder aus dem Automaten kommen, wenn die Stornos im interantionalen Bankenverkehr verrechnet sind. Was tun? Ohne Geld in die Berge starten oder die Reisepläne verschieben? Etwas heruntergekommen und ohne einen Cent in der Tasche fühlen wir uns wie die beiden Obdachlosen, die mit ihren Plastiktüten vor dem Supermarkt lagern. Reich oder arm? Plötzlich ist nichts mehr selbstverständlich. Wir müssen raus aus der Stadt und dahin, wo alle bescheiden aus dem Rucksack leben. Die Bustickets sind bereits bezahlt. Der Großeinkauf im Supermarkt geht auf Kreditkarte. Mit klammem Herzen und mit Proviant gefüllten Rucksäcken besteigen wir den Bus zum Bavella-Massiv.
Die Krise ist echt. Mann und Kinder müssen sich keine Mühe geben, um mitleiderregend auszusehen. Mit leicht panischem Blick versuchen sie der französischsprachigen Unterhaltung zu folgen. Wird der Plan aufgehen? "Ich würde das nicht für jeden tun", sagt abends die Wirtin des Gasthofs am Col schließlich. Aber eine Familie ohne Auto und Geld mitten im Gebirge – das ist auch für sie ein klarer Notfall. Auf Kreditkarte stattet sie uns mit dem nötigen Taschengeld aus, das wir brauchen, um die Zeltgebühr im Naturpark zu bezahlen. Und um Baguette zu kaufen – viel Baguette. 90 Cent kostet die knusprige Brotstange dank der Brotpreisbindung überall in Frankreich. Gelobt sei diese Spätfolge der französischen Revolution. Wir schnüren die langen Brote außen auf die Rucksäcke. Was braucht man mehr?
"Warum können wir das Messerset nicht haben?", nörgelt Milena, als wir an einem Touristenkiosk vorbeikommen, der letzten Einkaufsmöglichkeit vor der Wildnis. Nur 15 Euro, spottbillig und garantiert nirgendwo anders zu bekommen. "Wir haben kein Geld", lautet die schlichte, für die Kinder schwer zu akzeptierende Antwort. Drei Tagesetappen später kommt das Messerset wieder ins Gespräch. "Hätten wir die Messer gekauft, würde jetzt das Geld nicht mehr fürs Essen reichen", stellt die Tochter sachlich fest, als wir von den letzten Euros in einem Dorfladen Milch, Schokolade und Baguette kaufen. Unter einem Feigenbaum genießen wir in der Abendsonne den Luxus von frischer Milch und frischem Brot und den weiten Blick über die Ostküste der Insel. Nach den anstrengenden Wandertagen freuen wir uns auf den Strand und eine lange Ruhepause am Meer, aber vor allem auf den nächsten Geldautomaten.
Die spinnen, die Korsen
Aber noch liegt zwischen uns und dem Meer die berüchtigte korsische Macchia. Der auf der Karte eingezeichnete Wanderweg endet schon, bevor er begonnen hat. Ein Stück Straße, ein ausgetrockneter Wasserlauf und schließlich stehen wir da, wo einst die Römer scheiterten: im Gebüsch. Ginster, Disteln und Brombeerranken, so weit das Auge reicht. Mit Hilfe der Wanderstöcke schlagen wir kleine Schneisen ins Gestrüpp. "Lasst uns umkehren", sagt der übereifrige junge Römerhauptmann bei "Asterix auf Korsika", als er feststellt, dass seine Mannen in der Macchia nicht vorankommen. "Du bist ja so blöd", regt sich ein Legionär mit mehr Korsika-Erfahrung auf: "Wir wissen doch nicht, wo es langgeht." Vor oder zurück? Es ist nicht ganz klar, wo das größere Übel liegt. Also kämpfen wir uns durch – immer bergab – bis zur Küstenstraße. Ordentlich zerkratzt kommen wir endlich wieder in der Zivilisation an.
Entspannung
Drei Tage sind seit dem Aufbruch vom Col de Bavella vergangen. Uns kommen sie vor wie Monate. Das Erlebnis, mit einem Minimum an Ausrüstung und – fast – ohne Geld ein fremdes Land zu entdecken, hat uns als Familie zusammengeschweißt. "So wenig wie in diesem Urlaub haben unsere Kinder noch nie gemeckert", stellen wir Eltern fest, als wir entspannt am Strand liegen und den Kindern zuschauen, die in den Wellen toben. Das Wetter hat sich beruhigt. Strandmatten werden ausgerollt und Sonnenschirme zurechtgerückt. Wenn man sich auf dem Rücken im Wasser treiben lässt, sieht man in der Ferne die gezackten Berge des Bavella-Massivs.