Immer mehr Menschen suchen die schönsten Wege zu Fuß oder mit dem Rad über die Alpen. Anderswo-Autor und Wanderführer Gerhard Fitzthum verrät, wo es wirklich einsam ist und wie man auf alten Wegen angenehm von Norden nach Süden kommt.
Im Eurocity nach Mailand
Schlagartig wird es dunkel. Und nicht nur für einen kurzen Moment, sondern für fast zwanzig Minuten. Wir sitzen im Eurocity nach Mailand, der soeben in den 57 Kilometer langen Gotthard-Basistunnel eingefahren ist. In eineinhalb Stunden von Zürich nach Bellinzona – einmal über die Alpen könnte man sagen, wenn es nicht drunter durch ginge. Irrwitzig schnell, und für viele unserer Landsleute doch zu langsam: Statt sich für die klimafreundliche Zugreise zu entscheiden, setzen sie sich in Berlin, Frankfurt oder Düsseldorf in den Flieger und sind zwei Stunden später in Venedig, Mailand oder Turin. Einst ein mühseliges und gefährliches Unterfangen, ist die Überwindung des europäischen Hochgebirges immer einfacher, aber auch immer banaler geworden.
Die Reizarmut des modernen Reisens ist allerdings nicht ohne Gegentrend geblieben: Seit Jahren steigt die Zahl derer, die eine Überquerung der Alpen mit Haut und Haaren erleben wollen – im Fahrradsattel etwa, vor allem aber auf Schusters Rappen. Was die Per Pedes-Fraktion angeht, hat das Abenteuer des Alpentransits seit langem einen Namen: „E5“, die Kurzform für „Europäischer Fernwanderweg Nr. 5“: Start in Oberstdorf, das Ziel Meran oder Bozen, seltener die offiziellen Endpunkte Verona oder Venedig. Fünf bis sechs Tage auf und ab, in tiefe Taleinschnitte hinunter, über fast dreitausend Meter hohe Pässe und durch drei Länder.
Wandern von Hütte zu Hütte
Wie sehr die Nachfrage angewachsen ist, sieht man an der Tatsache, dass kaum ein Wanderveranstalter die Tour nicht im Programm hat. Man sieht es freilich auch unterwegs: Auf vielen Wegabschnitten geht man in der Karawane und abends wird es eng – vor allen in den Quartieren im Hochgebirge, die sich schlecht umgehen lassen. Die Memminger Hütte etwa platzt regelmäßig aus allen Nähten. Der renommierte Alpenjournalist Axel Klemmer schrieb, „dass während Juli und August 2016 nur an drei Tagen keine Notlager eingerichtet werden mussten. Die Ausnahmesituation ist zum Normalfall geworden … Seit 2014 steht ein großes Zelt mit Biertischgarnituren vor der Hütte, als Gastraumerweiterung und dauerprovisorisches Matratzenlager“. Im Grunde ist der Andrang auf dem E5 ein gutes Zeichen: Er deutet an, dass ganzheitliche und besinnliche Reiseformen im Aufwind sind und der moderne Schnelltourismus längst nicht mehr als allein seligmachend gilt. Statt sich mit High-Tech-Maschinen ans Ziel katapultieren zu lassen, wollen immer mehr Menschen einmal für einige Tage aus den Komfortnetzen des 21. Jahrhunderts aussteigen, sich den Elementen anvertrauen und sich darüber freuen, dass sie auch mal ohne die Prothesen der technischen Welt auskommen – zumindest ohne solche, die die Fortbewegung selbst betreffen.
Die Reise zu Fuß verschafft einen tieferen Zugang zur durchschrittenen Region, ein Erlebnis, das einen nach der Rückkehr noch lange bewegt und das im wahrsten Sinne des Wortes unvergesslich ist. Wer keine Rundwanderungen von einem festen Quartier aus macht, sondern von Ort zu Ort geht, sucht sich nicht einfach nur die schönsten Ziele einer Region heraus und lässt das weniger Spektakuläre links liegen. Vielmehr macht er eine Reise, die diesen Namen noch verdient: Er startet an einem Punkt, bewegt sich Schritt für Schritt durch die Landschaft und erlebt alle Perspektiven und Orte, die auf dem Weg liegen – weshalb der vielzitierte Satz „Der Weg ist das Ziel“ auch kein esoterisches Geschwafel ist. Darüber hinaus öffnet eine solche Unternehmung ein Fenster zu jener längsten Epoche der Mobilitätsgeschichte, in der es zum Zufußgehen noch keine Alternative gab.
Welche Wanderroute passt zu mir?
In historischer Hinsicht bringt einen der E5 aber nicht besonders weit. Er ist keine Route des historischen Alpentransits, sondern ein touristisches Kunstprodukt, dessen Wegverlauf vor fast einem halben Jahrhundert willkürlich festgelegt wurde. Dass es andernorts wahrhaft geschichtsträchtige Alpentransversalen gibt, hat damals noch niemanden interessiert. Tatsächlich findet man entlang des E5 nur selten Passagen, die Einblick in die mittelalterliche Verkehrsgeschichte geben. Das Gleiche gilt auch für viele anderen Transitrouten, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind – beispielsweise die alpine München-Venedig-Tour.
Die Reisenden der vor- und frühindustriellen Zeit nutzten ganz andere Wege, um die Alpen zu überwinden und ins sonnige Italien zu gelangen, nämlich die Routen, auf denen auch die „Säumer“ unterwegs waren.
Die Säumer waren die ersten Spediteure des Gebirges. Sie gingen zu Fuß und zogen dabei ihre „Saumtiere“ hinter sich her – Maultiere und robuste Bergpferde, die mit Handelswaren beladen waren (lat. „sauma“: Packsattel, im Unterschied zum Reitsattel). Dabei wählten sie einfach zu gehende Routen, bei denen sich die Anstrengungen in Grenzen hielten. Viele Säumerwege waren schon von den Römern genutzt und ausgebaut worden – zum Beispiel die Verbindungen über den Reschen oder den Brenner. Letzterer ist übrigens der niedrigste Nord-Süd-Übergang im ganzen Alpenraum.
Die besten Alpenquerungen
Die wichtigsten Transitrouten lagen früher aber in Graubünden, jenem Schweizer Kanton, der bis ins 19. Jahrhundert als das Passland schlechthin galt. Einer der spannendsten Säumerwege ist daher auch der über den Septimer, den die Bündner vor über zehn Jahren als „Via Sett“ für Fernwanderer durchmarkiert haben. Er führt von Chur in Graubünden über 110 Kilometer, sechs Etappen und knapp 5.000 Höhenmeter bergauf und bergab bis nach Chiavenna in Norditalien.
Um 1820 wurde die in Bivio abzweigende Verbindung über den Julierpass nach Italien mit einer Straße ausgebaut. Das führte dazu, dass die Scharte zwischen Piz Turba und Piz Lunghin kaum noch genutzt wurde und in den Dornröschenschlaf versank. Ein Glücksfall für den bereits im 14. Jahrhundert angelegten Südabstieg über die „Via Castelmur“, der so in seiner ganzen Länge erhalten blieb. Erkennen kann man die historische Wegeführung an der gut erhaltenen Pflasterung, den Serpentinen, die die Steigung reduzieren, den Begrenzungssteinen und den Querrinnen, die das Regenwasser ableiten. Damit ist die Via Castelmur ein Säumerpfad wie aus dem Bilderbuch, angelegt für bepackte Zwei- und Vierbeiner, denen ein gut befestigter Weg das Leben erheblich erleichterte.
Wenn man Pflastersteine unter den Füßen hat, die von Säumern und Saumtieren rund getreten sind, wird die Vergangenheit auf besondere Weise real. Das Individuum des 21. Jahrhunderts macht eine ungewöhnliche Erfahrung: Es fühlt sich eingebunden in jenes Ganze, das Menschheitsgeschichte genannt wird. Endlich mal ein Weg, dessen Sinn sich unmittelbar erschließt, ein Weg, der mehr ist als eine körperliche Herausforderung.
Unbekannte Routen für den Alpencross
Selbst im verkehrsreichen Talboden des Bergell, durch den die Via Castelmur auf ihrem Weg in den Süden führt, erstrahlt die alte Säumerroute an vielen Stellen noch im Originalzustand. Auch im unteren, schon zu Italien gehörenden Teil des Tals ist der ‚Strecia‘ genannte Maultierweg an vielen Stellen noch intakt und von mannshohen Trockenmauern flankiert, mit denen die Verkehrsader von den Viehweiden und Ackerterrassen abgegrenzt wurde. Es dürfte wohl kaum eine andere Region im Alpenraum geben, in der das mittelalterliche Verkehrsnetz noch so präsent ist.
Umso überraschender ist es, dass in dieser attraktiven und historisch bedeutenden Region nur so wenige Langstreckenwander*innen unterwegs sind. Der Routenzielort Chiavenna ist übrigens eines der schönsten mittelalterlichen Städtchen Oberitaliens. Und wer nach sechs Etappen noch nicht genug hat, kann über den offiziellen Endpunkt der Via Sett hinaus bis an den Comer See weiterwandern – ebenfalls auf talnahen mittelalterlichen Saumpfaden, auf denen man der modernen Welt abhanden kommt, auch ohne an die Grenzen der Leistungsfähigkeit zu kommen.
Die Via Sett ist natürlich nicht die einzige Alternative zu E5 und anderen touristischen Alpenquerungen. Faszinierende Einblicke in die alpine Verkehrsgeschichte bieten auch die Via Stockalper über den Simplon, die durch die Via Mala führende Via Spluga oder die einstmals berühmte Doppelpassroute Via Sbrinz, die über die Grimsel und den Griespass ins nördliche Piemont führt. All diese Routen sind bestens markiert und alles andere als überlaufen.
von Gerhard Fitzthum
Viele kleine und spezialisierte Reiseveranstalter bieten Wanderreisen in Europa an – in kleinen Gruppen und in ganz besondere Wanderregionen.