In der korsischen Macchia hat schon manch ein Eroberer sein Waterloo erlebt. Auch diese Wanderung steht kurz vor dem Scheitern. Nachdem sich die Familie vier Tage lang durch wegloses Gelände, Hochgebirge, Stürme und gefährliche Schluchten gekämpft hat, hängt sie nun – ganz kurz vor dem Ziel – in dichtem Brombeergebüsch fest. Ranken verhaken sich in T-Shirt und Rucksack, Arme und Beine sind von den scharfen Dornen blutig zerkratzt. "Wir kehren um, hier kommen wir nicht durch”, resigniert Familienvater und Bergführer Ulrich Habbe, der sein kleines Team bisher tadellos durch alle Unwägbarkeiten gelotst hat.
Jetzt aufgeben? "Wir haben es doch fast geschafft!”, protestiert die zehnjährige Milena und übernimmt kurzerhand die Führung. Sie befreit den Rucksack ihres Vaters aus der Brombeerumklammerung, hält Ranken zur Seite, benutzt den Wanderstock als Machete, bringt den verzweifelten Bruder wieder zum Lachen und versprüht so viel Zuversicht, dass alle die letzten Kräfte mobilisieren. Eine halbe Stunde später ist es tatsächlich geschafft: Der völlig verwachsene Weg mündet aufs freie Feld. Dahinter ist schon das Meer zu sehen. Rollentausch in einer Extremsituation.
Trotzanfall bringt wenig in der Wildnis
Wenn es einen Konsens unter Erwachsenen gibt, dann diesen: Kinder wandern nicht gerne. "Wir sind mal drei Wochen mit Rucksäcken entlang der walisischen Küste gewandert", berichtet Ulrich Habbe. "Die Kinder waren damals neun und zehn Jahre alt. Unsere Freunde betonten immer wieder: »Mit unseren Kindern würde das nicht gehen.«"
Daran stimmt zumindest eines: Die wenigsten Kinder wandern, wenn man ihnen die Wahl lässt. Ihr Urlaubsideal beinhaltet: lange schlafen, viel Computer spielen und im Schwimmbad oder – noch besser – am Strand rumliegen. Sie würden aber ohne sanften Druck von Seiten ihrer Eltern auch keine Fremdsprachen lernen, kaum Gemüse essen, nicht im Haushalt helfen und vermutlich auch kein Instrument spielen lernen. Eltern greifen ständig und umfassend in die Lebensgestaltung ihrer Kinder ein und versuchen, ihnen Werte und Kenntnisse zu vermitteln, die aus Kindersicht erst einmal wenig Attraktives haben.
Doch oft sind es auch die Eltern selbst, die ihr verständliches Bedürfnis nach Ruhe, Erholung und einer möglichst reibungsfreien Zeit auf die Kinder projizieren. Die überraschende Erkenntnis: Bei mehrtägigen Streckenwanderungen oder Fahrradtouren gibt es weniger Proteste als auf Tagestouren rund um eine feste Unterkunft. "Das liegt daran, dass die grundsätzliche Entscheidung, wie es weitergeht, auf einer Fernwanderung bereits getroffen ist und nicht jeden Morgen neu diskutiert wird", erklärt Ulrich Habbe, der mit seiner Familie ganz unterschiedliche Arten der Urlaubsgestaltung ausprobiert hat. "Auch dem dickköpfigsten Kind ist klar, dass ein Trotzanfall wenig bringt, wenn das Essen im Rucksack knapp und das nächste Dorf 15 Kilometer entfernt ist", weiß der Familienvater aus Erfahrung.
Urlaub zur Teamfindung
Wie wird aus vier Individuen mit ganz unterschiedlichen Werten, Stärken und Bedürfnissen ein Team, das gemeinsam durch dick und dünn geht, Krisen und Frustrationen überwindet und das hart Erarbeitete gemeinsam feiern kann? Der Urlaub ist eine gute Gelegenheit, Rollen zu tauschen und die eigenen Stärken kennenzulernen. Firmen schicken ihre Mitarbeiter dafür auf teure Spezialseminare oder in Abenteuercamps. Dort werden die Kollegen mit Aufgaben konfrontiert, die nur gemeinsam zu lösen sind, müssen Ängste überwinden, Vertrauen fassen und ungewohnte Verantwortung übernehmen.
Der Familienurlaub kann eine ähnliche Funktion haben. Sobald die alltägliche Aufgabenverteilung wegfällt, spielen Begabungen, Ausdauer, Humor oder Abenteuergeist eine größere Rolle als Alter, Rangordnung, Geschlecht oder Gewohnheit. Wichtig ist, dass die Herausforderungen groß genug sind. "Unsere Zwillinge sind jetzt sechs geworden", erzählt Adelheid Spengler, Montessori-Pädagogin und Mutter von drei Kindern. "Endlich haben sie auch eigene Rucksäcke und können ihr Gepäck selbst tragen." Statt mehr zu jammern, freuen sie sich darüber, ihre Stärke und Selbständigkeit zu demonstrieren und endlich dem großen Bruder gleichgestellt zu sein. "Sie tragen etwas zum Vorankommen der ganzen Familie bei und sind stolz darauf, dass sie den Eltern etwas abnehmen können", erklärt Spengler.
Je größer die Aufgabe, umso wichtiger ist es, dass jeder seine Stärken einbringen kann: Der Bruder ist geduldiger als die Schwester. Auf Radtouren ist er unschlagbar, weil er dank Willenskraft und Ausdauer auch endlose Anstiege meistert. Oben am Berg stellt er sein Rad ab und läuft zurück, um ihr schieben zu helfen. Die Schwester hasst langweilige Anstiege, liebt aber das Abenteuer. Je wilder eine Unternehmung, umso aktiver wird sie. Wenn der Bruder zögert oder die Eltern Einwände haben, verhandelt sie geschickt, motiviert und übernimmt mehr Gepäck, damit die anderen mitziehen.
Wer mit seinen Kindern von Ort zu Ort zieht oder ihnen lange Touren mit Gepäck zumutet, muss sich schon mal rechtfertigen – auch vor sich selbst. Brauchen Kinder nicht Geborgenheit, einen festen Ort, zu dem sie zurückkehren können, Gegenstände, die sie kennen, Menschen zu denen sie Verbindungen aufbauen können? "Natürlich frage ich mich vor jeder Reise, ob wir da auch alle wieder glücklich zurückkommen", sagt Adelheid Spengler. "Aber man merkt ja auch unterwegs, wie die Stimmung ist und ob die Kinder leiden." Gemeinsam mit Partner Karsten war die Familie im letzten Urlaub dreieinhalb Wochen mit öffentlichen Verkehrsmitteln quer durch Frankreich unterwegs, besuchte Freunde und Verwandte und schaute sich die Gegend an. "Als Pädagogin würde ich sagen: Heimat trägst du in dir", sagt Spengler. "Wenn wir zu fünft unterwegs sind, dann sind wir ja der heimatliche Kern. Da ist schon viel Geborgenheit da."
Die erste große Tour
Den ganzen Tag draußen sein, spielen, Rast machen, wo es am schönsten ist, und jeden Abend an einem anderen Ort schlafen: Kinder sind in der Regel neugierig und unternehmungslustig. Die Montessori-Pädagogin Spengler ist überzeugt, dass Kinder, wenn sie in der Natur sind, gewohntes Spielzeug nicht vermissen. "Die »Vorbereitete Umgebung« der Montessori-Erziehung beschreibt genau das, was Kinder in der Natur vorfinden: Plätze zum Klettern, Verstecken und Toben, Sand, Steine, Holzstücke und viele andere Gegenstände, aus denen sie Fantasiewelten schaffen können. Mehr brauchen Kinder nicht," erklärt sie.
Barbara Jeuther, Lehrerin und Mutter von zwei 11 und 13 Jahre alten Söhnen, hat bisher immer Campingurlaub mit dem Auto gemacht. In diesem Sommer hatten die Eltern keine Lust auf eine weite Reise. Da sie auch im Alltag begeistert radeln, planten sie gemeinsam mit den Kindern eine Radtour mit Zelten und Gepäck direkt von zuhause aus bis zu den Großeltern. 400 Kilometer quer durch Deutschland. Der Kompromiss zwischen antriebsschwachen Kindern und sportlich ambitionierten Eltern: Die meisten Etappen plante die Familie steigungsfrei auf den Flussradwegen. "Am eindrucksvollsten waren die Tage, an denen alles schiefging", erzählt die Lehrerin. "Reifen platt, Sturzregen, 16-prozentige Steigungen: Da gaben plötzlich alle ihr Bestes und reden heute noch davon, wie toll wir das gemeistert haben."
Auch Diplom-Kauffrau Claudia Wecken war von der ersten Radtour mit Mann und Tochter im bergigen Cornwall begeistert. "Unter der Woche sehen sich mein Mann und meine Tochter nur selten", erzählt sie. "Den Radurlaub haben sie zusammen auf einem Tandem verbracht. Es war schön zu sehen, wie sie miteinander geredet und sich gegenseitig angefeuert haben, wenn es bergauf ging."
Spaßfaktor einplanen
Allerdings klappt der Teambildungsprozess nur, wenn alle Beteiligten unterwegs gemeinsam Spaß haben, viel erleben und der Unternehmung einen Sinn abgewinnen können. Wer will schon zu einem Team gehören, das nur langweilige Sachen macht und unfair miteinander umgeht? Diese positive Grundstimmung zu schaffen, ist Aufgabe der Eltern und stellt hohe Anforderungen an Kreativität und Kompromissbereitschaft. Für Kinder sind Touren besonders attraktiv, die ein besonderes Ziel haben oder unterwegs viele nicht alltägliche Erlebnissen bieten: Wer im Landes?inneren ist, möchte gern ans Meer – zur Not zu Fuß. Besuche bei Freunden oder Verwandten lassen sich gut mit einer längeren Radtour verbinden. Wenn Freunde mitdürfen, ist jeder Urlaub spannend.
"Die erste Radtour mit Kindern haben wir ohne den Vater gemacht", erzählt Krankengymnastin Kathrin Schott. "Es waren Ferien, er musste arbeiten, ich wollte unbedingt noch etwas unternehmen."Die Kinder waren erst einmal wenig begeistert. Radfahren statt sich mit Freunden im Schwimmbad verabreden? Nein danke! Also suchte die Mutter stundenlang im Internet nach Anreizen. Entlang der Strecke fand sie ein Sauriermuseum, ein Technikmuseum mit ausgemusterten Raumfahrzeugen, mehrere Baggerseen mit Badestrand und ein Salzbergwerk. Sie versprach, Berge zu meiden, nur in schönen Hotels zu übernachten und jeden Tag Pommes essen zu gehen. Die Tour wurde ein Erfolg.
"Ich bezweifle, dass unsere Kinder später mit Gruseln auf traumatische Urlaube zurückblicken werden", sagt die Montessori-Pädagogin Adelheid Spengler. "In den Erzählungen über die Ferien überwiegt eher die Begeisterung für die tollen Dinge, die unterwegs passiert sind."