Rauf aufs Rad und einfach losfahren. Frankreich ist das perfekte Urlaubsland für Radfahrer - egal, ob Genussradeln oder eine Laienvariante der Tour de France.
Es war im Jahr 1982. Wir hatten gerade Abi gemacht. Viel Zeit, wenig Geld, aber Lust auf die große Freiheit. Zwei frankophile Mädchen, ein sportlicher Junge: Noch mal gemeinsam Urlaub machen, bevor sich die Wege trennen. Der Plan: Mit Rad und Zelt von zuhause losradeln bis ans Mittelmeer. Der Blick auf die Karte zeigte: Zwischen Süddeutschland und Südfrankreich liegen die Alpen. Aber wer sucht, findet auch immer eine schonende Variante: Wenn man dem Wasser folgt, kommt man an Rhein, Doubs, Loue, Ain und Rhône entlang weitgehend steigungsfrei vom Süddeutschen ins Südfranzösische.
1000 Kilometer in zehn Tagen. Unterwegs gab es Baguette aus der Dorf-Boulangerie, große Kanten Jura-Käse vom Bauern und den ganz billigen Vin rouge aus dem Supermarkt. Im Jura versagte die 10-Gang-Schaltung am Rennrad, so dass es mit Singlespeed weiter gen Süden ging – was waren wir damals noch unkompliziert, spontan und leidensfähig.
30 Jahre später: Der Lebensgefährte hält die Geschichte schlicht für Angeberei. 1000 Kilometer in zehn Tagen? Eher unwahrscheinlich, meint er und schlägt die Probe aufs Exempel vor. Wir machen das Ganze noch mal: eine frankophile Frau, ein sportlicher Mann und ein sehr entspannter 15-Jähriger. Der Ausgangspunkt: Speyer in der Pfalz. Die Route: immer der Nase Richtung Süden.
Schon kurz nachdem wir Speyer verlassen haben, weichen wir vom großen Plan ab. Der Rheinradweg ist zwar wunderbar ausgebaut, führt aber durch weitgehend langweilige Landschaft. Immer auf dem Deich lang? Das würde uns zwar den 100 Tageskilometern näher bringen, aber das direkte Erlebnis ist wichtiger, als nur Strecke zu machen.
Bergtraining in Vogesen und Elsass
Verführerisch liegen die Nordvogesen im Westen und locken uns von der optimalen Fahrlinie weg. Schon bald wird die Landschaft hügelig und das Radeln anstrengend. Wieder viel zu viel eingepackt fürs einfache Leben. Vor 30 Jahren hatte ich sicher nicht drei Paar Schuhe dabei. Die vielen Kilos in den Packtaschen sind vor allem abends ein Fluch, wenn es ermattet zum Endspurt Richtung Campingplatz geht. Der befindet sich in Frankreich gerne am höchsten Punkt der Gemeinde. In Niederbronn-Les-Bains geht es mit 16-prozentiger Steigung hinauf auf den Berg, wo der Campingplatz ausgesprochen idyllisch am Waldrand liegt. Dumm nur, dass wir den Einkauf vergessen haben und vor dem Abendessen wieder hinunter müssen in den kleinen Kurort.
Man könnte natürlich einen ganzen Fahrradurlaub in den Vogesen verbringen. Aber wir wollen ja Richtung Mittelmeer. Und nach viel orientierungsintensivem Bergfahren in heftiger Sommerhitze freuen wir uns auf flachere Strecken am Rhein-Rhône-Kanal entlang. Nach einem Zwischenstopp in Selestat und einem Erholungstag im stilechten Hotel des Museumsdorfs "Eco-Musée d’Alsace" stoßen wir endlich auf den historischen Kanal, der Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals die europäische Wasserscheide überbrückte und eine schiffbare Verbindung zwischen Nordsee und Mittelmeer herstellte. Inzwischen hat er eine ähnliche küstenverbindende Funktion für Radfahrer: Der europäische Fernradweg E6, der am Kanal entlang führt, startet am Atlantik und zieht sich quer durch Europa von Loire über Donau bis ans Schwarze Meer. Breite, frisch geteerte Wege, eine tipptopp Wegweisung und endlich auch mal Rückenwind machen es möglich: Auf dieser Etappe knacken wir die 100 Tageskilometer und kommen auf dem Weg gen Mittelmeer ein großes Stück voran. Die meisten Radfahrer scheinen allerdings Richtung Schwarzes Meer zu radeln. Der Strom der entgegenkommenden Radtouristen reißt nicht ab. Deutsche Radfahrer erkennt man an den wasserdichten Packtaschen, Franzosen sind knapp bekleidet auf dem Rennrad unterwegs, Niederländer transportieren gern den Hund im Anhänger. Alle nehmen sich die Zeit, freundlich zu grüßen. Die meisten sehen so aus, als hätte man ihnen hier vor 30 Jahren auch schon begegnen können. Aber der Mangel an Radwegen und der Zwang zur individuellen Routenwahl hat damals verhindert, dass man viele andere Radler traf.
Die Landschaft ändert sich täglich. Tief in den Jura-Kalk eingegraben windet sich der Doubs in großen Schleifen mal nach Osten, mal nach Westen. Der schöne Radweg bleibt meist im Tal und führt durch grüne Wiesen wechselnd am Fluss oder am Kanal entlang. Immer wieder kommt ein hübsches Städtchen, in dem man einen Sirup trinken oder einkaufen kann. Langsam setzt der Meditationsfaktor ein. Die Gedanken schalten auf Autopilot: So könnte man ewig weiterradeln.
Der entspannte 15-Jährige schlägt vor, auf dem E6 zu bleiben und statt Mittelmeer einfach den Atlantik anzusteuern. Spektakuläre Landschaften im Jura oder die schönen Städte des Doubs-Tals entlocken ihm nur wenig Begeisterung. Der sportliche Mann dagegen kann vor lauter Vorfreude auf mehr Berge die Beine kaum stillhalten. Außerdem soll es ja die gleiche Strecke sein wie vor 30 Jahren. Also überstimmen wir den Sohn wie immer demokratisch 2:1 und biegen kurz vor Besançon nach Osten Richtung Loue- und Ain-Tal ab.
Vom Doubs zum Ain
Das Bergtraining im Elsass zahlt sich aus. Hier, mitten im französischen Jura, geht es den lieben langen Tag heftig bergauf und bergab. Am Ende des Tages haben wir nicht selten über 1000 Höhenmeter in den Beinen. Die Frage, wie wir das vor 30 Jahren ohne Gangschaltung geschafft haben sollen, ist nicht ganz unberechtigt. Belohnt wird die Anstrengung durch spektakuläre Ausblicke. Der mehrstöckige Eisenbahn-Viadukt Cize-Bolozon spannt sich übers enge Ain-Tal, wenig später schauen wir auf den tief unter uns liegenden grünblauen Ain-Stausee.
Nach zehn Tagen ist klar: Bis zum Mittelmeer werden wir es nicht schaffen. Aber rhôneaufwärts bis zum Genfer See – das könnte klappen. Wieder überrascht uns Frankreich mit neuer Fahrradinfrastruktur. Autobahnartig führt ein bis Genf beschilderter zweispuriger Radweg an dem breit dahindümpelnden Strom lang – um wenige Kilometer weiter schamlos auf einer stark befahrenen Landstraße zu enden. Aber je näher wir der Schweizer Grenze kommen, umso besser sind die verschiedenen Stadien des Radwegeausbaus zu erkennen. "Vom Genfer See ans Mittelmeer" heißt die Radroute, auf der wir uns nun – wieder einmal gegen den Strom – Richtung Norden orientieren.
Schließlich waren es 1000 Kilometer in 15 Tagen. Es gab Baguette aus der Dorf-Boulangerie, wunderbaren Jura-Käse vom Bauern, Milchkaffees, Sirups und Oranginas in den Bistros am Weg. Alle paar Tage tauschten wir das Zelt gegen ein schönes Hotelzimmer und das Essen vom Campingkocher gegen ein köstliches 4-Gänge-Menü in einem gemütlichen, typisch französischen Landgasthof.
Die "Tour de France" bleibt ein Klassiker, den man immer wieder und mit jedem Budget wiederholen kann.