Direkt nach der Mittagspause fängt die Vorfreude aufs Abendessen an. Was es heute wohl gibt? Wieder vier Gänge? Wieder eine leckere Tarte zum Nachtisch – mit frischem Obst, noch warm aus dem Ofen?
Wandern im Hochgebirge ist anstrengend und verbraucht besonders viele Kalorien. Kein Wunder, dass Essen da eine besonders große Rolle spielt. Gut, dass man in Frankreich unterwegs ist, wo die Esskultur mit Weltkulturerbe-Status selbst auf den entlegensten Berghütten gepflegt wird.
"Kommt rein, der Ofen heizt schon ein!" Der Hüttenwirt des Réfuge Buffère steht in der Tür und nimmt die nassen Gäste in Empfang. Rucksäcke, Umhänge, Schuhe, Haare, Kleider – alles trieft. Auf dem letzten Kilometer zur Hütte hat ein Gewitterguss die kleine Gruppe erwischt und bis auf die Unterwäsche durchweicht. Umso schöner ist es, nach dem Umziehen am Ofen zu sitzen, etwas Warmes zu trinken und die anderen Gäste kennenzulernen.
Fernwandern in Frankreich
Ungefähr fünfzehn Wanderer haben sich an diesem Sommerabend auf der Hütte versammelt. Die meisten sind für mehrtägige Bergtouren in der Gegend. Man wird sich noch häufiger abends auf anderen Hütten treffen. Tagesausflügler tauchen auf den Hütten selten auf. Sie machen sich am späteren Nachmittag wieder auf den Abstieg ins Tal.
Das Vallée de la Clarée verläuft in der Region Hautes-Alpes nahe der französisch-italienischen Grenze. Das Hochtal, das sich auf einer Höhe zwischen 1400 und 2000 Metern über dem Meeresspiegel befindet, bietet auch ungeübten Bergwanderern einfache Einstiegsmöglichkeiten in die spektakuläre Bergwelt. Die zahlreichen Gipfel und Seen sind über ein vielfältiges Wanderwegenetz verknüpft und bieten sich als Ziele für kleine und größere Wanderungen an. Die "Réfuges", in der Regel einfache Berghütten mit Übernachtungsmöglichkeiten, liegen gut erreichbar auf 2000 bis 2200 Metern Höhe. Wanderer erreichen sie entweder über anspruchsvolle Touren durchs Hochgebirge – oder sie nutzen den Fernwanderweg, der im Tal verläuft. Von dort aus müssen sie zwar immer wieder hoch zu den Hütten, bequemer ist diese Variante trotzdem.
Schutz für Natur und Kultur
Die Geschichte dieser besonderen Bergregion ähnelt der vieler anderer Alpengegenden: Im Spannungsfeld zwischen Abwanderung und Zerstörung durch aggressiven (Ski-)Tourismus musste sich die Bevölkerung in den 90er Jahren entscheiden zwischen dem Ausverkauf ihrer Natur oder einem sanfteren, umweltschonenden Wachstum. Aus heutiger Sicht ist der Wandel von der sterbenden Landwirtschafts- zur gedeihenden Tourismusregion geglückt. Das Vallée de la Clarée gehört heute – wie die Düne von Pilat, der Mont Saint Michel, die Pont du Gard oder die Verdonschlucht – zu den unter besonderen Schutz gestellten französischen Kultur- und Naturgütern, den "Grands Sites Classés de France". Der Status bedeutet eine enorme touristische Aufwertung – und gleichzeitig die Verpflichtung zum Schutz von Landschaft und traditionellen Dorfstrukturen in der Region.
Hüttenküche à la française
Die Gemeinden im Tal haben auf diese Herausforderung reagiert. Im Sommer ist das Tal-Ende für Autos, Lkw und Motorräder gesperrt. Hier kommt man nur zu Fuß oder per Shuttlebus hin. Hotelklötze oder Wintersport-Retorten finden sich im Tal nicht. Stattdessen sind die Dörfer im traditionellen Stil erhalten. Die vielen Sommer- und Wintergäste schlafen in kleinen Familienhotels, in Gasthöfen, in Privatzimmern, den sogenannten Gîtes – oder direkt da, wo es am schönsten ist: auf einer der Hütten oben in den Bergen.
Die nassen Sachen sind im Vorraum zum Trocknen aufgehängt. Punkt 19 Uhr beginnt die kleine Hüttenküche mit der Essensausgabe. Pünktlich und erwartungsvoll sitzen die Gäste Ellenbogen an Ellenbogen an den Tischen. Zuerst bekommt jeder Tisch eine große Schüssel mit dampfender Gemüsesuppe. Nur das Klappern der Löffel ist zu hören, während sich alle hungrig auf diesen ersten Gang stürzen und gern auch einen zweiten Teller Suppe gegen den größten Hunger löffeln. Als der Hauptgang – Coq au vin und Kartoffelgratin – aufgetragen wird, ist die Angst ums Überleben gewichen. Die Stimmung wird entspannter. Nun nimmt man sich Zeit, das Essen in Ruhe zu genießen. Gespräche entwickeln sich, Wein wird herumgereicht. Spätestens beim dritten Gang – bunter Salat mit Vinaigrette-Sauce – weiß man, warum man unter allen europäischen Ländern in Frankreich am liebsten wandert: herrliche Berge, hervorragend markierte Wanderwege, die Vorfreude aufs Essen. Und zum Nachtisch gibt es frische Aprikosentarte.