Als der Bahnhof von Oslo aus dem Blickfeld verschwindet, ahne ich nicht, dass mir Tage wie im Rausch bevorstehen. Denn eine Fahrt mit der Bergenbahn ist wie ein Thriller: Erst geht es gemächlich los, dann steigert sich die Spannung von Stunde zu Stunde. Doch anders als beim Film ist man nah dran. Es ist Mitte September, die letzten warmen Tage locken ins Fjell. Unterwegs plane ich mehrere Stopps für Outdooraktivitäten. Doch erstmal zurücklehnen.
Die Bergenbahn
Die Bergenbahn steht für 505 Kilometer Schienentraum zwischen Oslo und Bergen. Sie steht für fast 200 Tunnels, für etwa 300 Brücken. Und sie steht für beeindruckende Landschaften. Bequemer kommt man nicht ins Fjell und an die Fjorde.
Der Zug versprüht eine heimelige Atmosphäre. Es ist fast so, als säße man zu Hause im Wohnzimmer. Ringsum richten sich die Passagiere ein, viele für das komplette Programm bis Bergen, das sind sieben Stunden Landschaftskino. Auf den Ausklapptischen stehen Becher mit Kaffee oder Tee. Manche packen Brote aus, andere bummeln zum Speisewagen. Hinter der Fensterscheibe gleitet Norwegen vorbei, wie man es von Bildern kennt: rot und weiß angestrichene Bauernhöfe, dann wieder Wiesen, Felder, Wälder.
Modelleisenbahn-Feeling
Das Signalhorn ertönt, Schafe sprinten aufgeschreckt davon. Ein langsames Herantasten ans Gebirge. Alles wirkt wie von einem Modelleisenbahnbauer in Szene gesetzt. Mit der Höhe weicht das Farmland einem Farbrausch. Die Laubbäume changieren von einem dunklen Grün zu einem satten Gelb weiter zu Fuchsrot. Man kann stundenlang schauen – es wird nie langweilig.
Mein erster Stopp ist der Bergort Geilo; eine Wanderung im Nationalpark Hallingskarvet und eine Biketour durchs Fjell. Dann steht eine aufwühlende Raftingfahrt im wildtosenden Fluss Numedalslågen an. Ein Rausch! Die Entschleunigung gibt es in der Bergenbahn.
Anderentags bringt mich der Abendzug ins 50 Schienenkilometer entfernte Finse. Laut Fahrplan sind das 36 Minuten. Es geht bergan. Hinter den Scheiben fliegt das Bergland vorbei. Wilde Flüsse wechseln mit Seen und einsamen Hütten. Der Zugführer reißt mich aus den Gedanken. Er drosselt die Fahrt, stoppt im Nichts: weite Hochplateaus, Gletscher, davor der Finsevatnet und ein paar falunrot angepinselte Häuser. Auf einem steht Finse H.o.h. 1222,2 m — Fra Oslo 302,1 km — Fra Bergen 169,1 km. Es ist der höchstgelegene Bahnhof Nordeuropas. 1222 heißt auch das Hotel. 20 Uhr und es regnet. Ich bin froh, dass es nur ein paar Meter zu Fuß ins Trockene sind. Mit mir steigen Wanderer und Radfahrer aus. Die Dämmerung und der kalte Wind treiben alle in das heimelige Gasthaus.
Wer ist der Schönste im ganzen Land?
Am nächsten Morgen wandert die tiefstehende Sonne um acht Uhr wie ein Spotscheinwerfer über die Zunge des Hardangerjøkulen. Der sechstgrößte Gletscher Norwegens und die Hochebene Hardangervidda dienten im Film Star Wars: Episode V – das Imperium schlägt zurück als Kulisse für den Eisplaneten Hoth. Kalt und abweisend. Doch noch lodert der Herbst, noch kann man im T-Shirt durch die Natur streifen.
Zuerst strample ich vom Bahnhof Finse mit dem Fahrrad bis zum Vatnahalsen Høyfjellshotell. Dort werden 24 Stunden später die Wanderschuhe geschnürt. In der Früh dauert es, bis ihre Sonnenstrahlen die 20 Serpentinen erreichen. 27 Kilometer sind es bis in den Ort Flåm – von 840 Metern auf 0. Ich bin der Einzige zu Fuß. Ab und zu huschen gut gelaunte Radler vorbei. Am Hang gegenüber kriechen die laubgrünen Züge der Flåmbahn im Eineinviertel-Stunden-Takt in Richtung Haltestelle Myrdal. Kulissenwechsel: Fjorde! ...
Die Reise führt im weiteren Verlauf zum Nærøyfjord, zum Dorf Gudvangen und nach Bergen. Nachzulesen ist die gesamte Reisereportage im Anderswo-Magazin 2022.
Thorsten Brönner