"Das hätten wir mal nüchtern machen sollen", klagt Susanne, als sie versucht, exakt zwei Deziliter Grenache im Messbecher abzumessen. Die letzte Kurseinheit der Weinwoche auf dem Château Duvivier in der Provence ist im vollen Gang. Nachdem sich die Teilnehmer über mehrere Tage tief in die Materie eingetrunken und eingearbeitet haben, steht ein besonderes Highlight auf dem Programm: die Kreation einer eigenen Cuvée. Dazu hat Antoine Kaufmann, Hauswinzer der Domaine Duvivier, drei im Vorjahr gekelterte reine Weinsorten mitgebracht: Grenache, Syrah und Cabernet Sauvignon. Zum Trinken sind die Weine noch zu jung. Aber nachdem sie nun ein Jahr im Tank gereift sind, ist es Aufgabe des Kellermeisters, das richtige Mischverhältnis für den "Les Mûriers", einen der Spitzenweine des Chateaus, zu finden. Dann kommt der Wein zur weiteren Lagerung in die Flasche.
Die eigene Cuvée kreieren
"Jede Traube schmeckt jedes Jahr anders", erklärt Kaufmann, der neben der Weinproduktion auch den Forschungsbetrieb auf dem Bio-Weingut betreut. "Da muss man das Mischverhältnis jedes Jahr neu ausprobieren." Obwohl er seit über 15 Jahren seinen "Les Mûriers" produziert, ist er immer dankbar, wenn er beim Finden der besten Mischung Hilfe und Rückmeldung von Expert*innen oder anderen Kellermeister*innen bekommt. Eine interessante Erfahrung für die Kursteilnehmer*innen, in die Rolle des Kellermeisters oder der Kellermeisterin zu schlüpfen und in 6er-Gruppen ihre ganz persönliche Cuvée zu kreieren. Nach mehrfachem Hin- und Her- und Danebenschütten steht die erste Mischung. "Viel zu bitter", urteilt die Gruppe. Da muss mehr Geschmack und weniger Gerbstoff rein. Ein bisschen mehr Syrah und Cabernet Sauvignon, dafür weniger Grenache - oder ist es doch der Syrah, der die Bitterstoffe mitbringt?
Es wird gemischt, probiert, diskutiert, gerechnet und neu gemischt. Der Lärm im Raum steigt mit dem Alkoholpegel. Jede Gruppe ist der Meinung, dass ihre Kreation die beste wird. Kaufmann geht von Tisch zu Tisch, gibt Tipps und nimmt es nicht persönlich, wenn die zunehmend alkoholisierten Freund*innen des Weins ihm ihrerseits Tipps für seine Arbeit geben.
Als schließlich alle Cuvées verkorkt sind und es zu Aperitif und Abendessen geht, steht für alle fest: Egal, für welches Mischverhältnis sich Antoine Kaufmann entscheiden wird, der "Les Mûriers", Jahrgang 2013, wird ein ganz starker Wein.
Neues ausprobieren und Bewährtes genießen
So könnte man die Mission des Château Duvivier zusammenfassen. Anfang der 90er Jahre hatte ein lokaler Biowinzer mitbekommen, dass das brachliegende Weingut enteignet werden sollte, und Karl Schefer, Gründer des Schweizer Biowein-Handelshauses Delinat, informiert. Schefer hatte schon länger damit geliebäugelt, ein eigenes Forschungsgut zu haben, auf dem man mit biologischen Anbaumethoden experimentieren kann. Die Domaine Duvivier war perfekt, da sie nicht nur die nötige Fläche fürs Experimentieren bot, sondern auch ein Herrenhaus, auf dem Delinat-Kund*innen Wein und Urlaub verbinden konnten.
Urlaub, Wein und Essen
Das Haus liegt mitten in den Weinbergen, die im Süden direkt an die bewaldeten Hügel des Bessillon-Massivs grenzen. Rund ums Château kann man wandern oder mit dem Rad über kleine einsame Nebenstraßen die idyllischen Provence-Städtchen Cotignac, Barjols, Aups oder Correns besuchen. In dieser Herbstwoche wird die Idylle allein dadurch gestört, dass rund um die Öko-Insel die Treibjagd tobt. Seitdem frühen Sonntagmorgen knallt und böllert es in der ganzen Umgebung, begleitet von wildem Hundegebell. "Frankreich hat 1,8 Millionen registrierte Jäger*innen", warnt Hausherr Uwe Fahs seine Gäste bei der Begrüßung. "Das Volk ist bewaffnet." Wer sich trotzdem in den Wald wagen wolle, solle sich an die großen markierten Wege halten. "Wenn einer eine Flinte in der Hand hat, müssen Sie schnell etwas machen, was ein Wildschwein nicht macht", empfiehlt er. "Pfeiffen, singen, schreien …" Auf der Domaine selbst darf längst nicht mehr gejagt werden. Das hat er beim lokalen Jagdverein nach langer Diskussion durchgesetzt. Ausnahme: Ein Wildschwein hat den Elektrozaun durchbrochen und frisst sich durch die guten Biotrauben. Dann ruft auch der Bio-Winzer die Jäger*innen.
Seit 1998 produziert die Domaine erfolgreich eigene Weine wie "Les Mûriers" "Les Hirondelles" oder "Le Clos". Dass das Haus fast immer ausgebucht ist, ist dem Ehepaar Fahs zu verdanken. Während Uwe Fahs in der Küche provenzalische Köstlichkeiten zaubert, versorgt Sylvia Fahs die Gäste mit allem, was sie sonst so brauchen – vom Ausflugstipp bis zur Taschenlampe.
Jeden Abend vor dem Abendessen laden die beiden ihre Gäste zum Aperitif. Dann gibt Uwe Fahs eine launige Einführung ins Fünf-Gänge-Menü. Er erzählt, wo er die Zutaten eingekauft und wie er sie zubereitet hat, dass er die besten Weine lieber selbst trinkt, als sie zu verkochen, dass in eine gute Mousse au Chocolat unbedingt Olivenöl gehört und dass er sein Gemüsegratin nicht mehr "Gratin", sondern "Millefeuille" nennt, weil er nicht altmodisch rüberkommen möchte. Er stellt auch die Weine vor, die zu den unterschiedlichen Gängen gereicht werden, und erklärt, warum sie sich aus seiner Sicht gut mit den Speisen ergänzen. "Rotwein zur klassischen Pasta mit Tomatensauce? Geht nicht!", sagt er. Die Tomaten haben Säure, der Rotwein hat Säure. Das passt nicht zusammen. Fahs zuckt mit den Schultern und lacht: "Ich machs trotzdem."
Dirk Wasilewski, Haussommelier bei Delinat, ermutigt die Teilnehmer*innen dazu, auszuprobieren und sich ihr eigenes Urteil zu bilden. "Wein und Essen, das ist wie bei der Wahl der passenden Ehepartnerin", sagt er mit amüsiertem Seitenblick zu seiner Frau. "Man kann auf Harmonie setzen oder auf Herausforderung." Uwe Fahrs hat für die Demonstration ein paar kräftige Tapas vorbereitet, zu denen der Sommelier unterschiedliche Weine einschenkt. "Der schmeckt ja nach gar nichts mehr", ruft eine Teilnehmerin entsetzt, als sie zu dem Weißwein, der ihr vorher so gut geschmeckt hat, ein Sardellen-Häppchen probiert. "Salz nimmt die Säure weg", erklärt Wasilewski und lässt alle den Tequila-Effekt ausprobieren: Salzkörner auf die Handfläche nehmen, ablecken und danach in eine Zitronenscheibe beißen. Und tatsächlich: Die Zitrone ist nicht mehr sauer, sondern mild. Den gegenteiligen Effekt hat die Sardelle auf einen Wein mit viel Säure. Der Wein wird runder, die Sardinenpaste milder. "Zwei kräftige Partner: Eine Herausforderung, bei der beide Seiten gewinnen", urteilt der Sommelier.
Keine absolute Wahrheit
Was beim Verkosten der Weine schnell klar wird: Eine absolute Wahrheit gibt es nicht. "Geschmack ist etwas sehr Individuelles", bestätigt Dirk Wasilewski. "Jeder riecht und schmeckt anders." Man kann einen Wein nach Farbskala, Geruchsnoten oder Geschmack analysieren – ob er schmeckt oder nicht, muss jede*r für sich selbst entscheiden. Dabei spielen Assoziationen, Erinnerungen, Vorlieben und die Intensität der Wahrnehmung eine große Rolle. "Frauen riechen Vanille stärker als Männer", sagt Wasilewski. "Und manche Menschen haben beispielsweise eine niedrige Wahrnehmungsschwelle für die Blüte der Schwarzen Johannisbeere. Bei ihnen kommt das, was andere als angenehm und blumig empfinden, als Geruch nach Katzenpipi an." Vor allem bei den edlen, lange im Holzfass gereiften Rotweinen geht die Meinung der Tester auseinander. Einige ernten Kommentare wie "verbrannter Gummi", "Kuhstall" oder gar: "Der riecht ja nach nassem Lappen."
Wer bei der Verkostung des Duvivier "Les Hirondelles" 2014 eine Note Männerschweiß wahrgenommen hat, könnte richtig liegen. Denn beim Praxisteil des Seminars dürfen die Teilnehmer*innen die in Maischebottichen vor sich hin gärenden frisch gepressten Trauben durchmischen, damit Schalen und Flüssigkeit sich nicht voneinander absetzen. Die Männer sind im Unterhemd angetreten, denn nach mehreren Tagen Weinverkostung wissen alle, dass man gegen Rotweinflecken auf weißem Hemd keine Chance hat. Begeistert tauchen sie die Arme tief hinein in die warme rote Sauce und schaufeln und heben mit großen Schöpfbewegungen die Schalen immer wieder vom Grund nach oben. Dreimal täglich muss diese Prozedur wiederholt werden, um eine gleichmäßige Gärung sicherzustellen. Das geht nicht nur ganz schön ins Kreuz, sondern auch ordentlich in den Kopf. Wer die mit Alkohol geschwängerte Luft zu lange einatmet, braucht gar nichts mehr zu trinken, um einen Kater zu bekommen.
Als am Abend alle schon erwartungsvoll vor ihren frischen Gläsersets an den langen Tischen sitzen, geht Martin draußen in Badehose über die Terrasse. Schwänzt der etwa? "Er hat gesagt, er kann keinen Wein mehr sehen und trinkt jetzt in Ruhe am Pool ein Bier", entschuldigt ihn seine Frau. Während ihm einige noch sehnsüchtig nachschauen, hat sich die Mehrzahl schon Dirk und Antoine Kaufmann zugewandt, die eine ganze Batterie verhüllter Flaschen mitgebracht haben.