In fünf Tagen an den Strand: Mit dem Nachtzug nach Venedig und der Fähre nach Korfu.
Ich erwache aus tiefem Schlaf. Das Hotelzimmer liegt im Halbdunkel. Wo bin ich? Ist es Morgen, Mittag oder Abend? Vor dem Haus diskutieren ein Mann und eine Frau lautstark. Es klingt aufgeregt italienisch. Irgendwo traktiert jemand eine Wand mit dem Bohrhammer. Das Badezimmer verströmt den typischen Chlorgeruch des Südens. Venedig, klar, wir sind in Venedig. Sie waren also echt, die goldenen Pferde von San Marco, der Campanile, der Dogenpalast!
Am Vorabend hat sich der Nachtzug in München in Bewegung gesetzt. Familienabteil, ein heißer Tag. Kufstein ist die letzte Station, die ich wahrnehme. Rattern wechselt mit Stille. Nachtzugschlaf ist nie tief und fest. Man träumt voraus und zurück, ist in einer Zwischenzeit, einem Zwischenraum, wird öfter wach und hat das gute Gefühl, noch mal einschlafen zu dürfen.
Venedig in den Morgenstunden: 6.38 Uhr: Ankunft Venezia Santa Lucia. Goldenes Morgenlicht. Raus auf die Treppe vor dem Bahnhof. Vor uns der Canal Grande: Lastboote schleppen Hotelwäsche, Getränkepaletten, Handwerkerkisten. Diesel, Salzwasser, Espresso mischen ihre Düfte. Unser Hotel liegt um die Ecke. Der noch müde Hotelportier murmelt etwas wie: "Sie sind sehr früh." Aber er hat schon ein Zimmer für uns frei. Nach einer kurzen Dusche starten wir vom Gepäck befreit einen herrlichen Spaziergang zu den Ikonen der Lagunenstadt. Alle Kramläden an der Rialtobrücke sind noch mit Metallrollläden verschlossen – im Nachtschlaf. Die Vaporetti spucken Pendler in die Stadtteile. Viele nehmen ein Süßteil im Stehen in einem der vielen Cafés. Die Morgensonne taucht die Palazzi am Canal Grande in mildes Licht. Um neun Uhr stehen wir auf dem Campanile, unter uns eine Stadt, die sich noch den Schlaf aus den Augen reibt. Wir sind allein mit den goldenen Pferden von San Marco. Die Kinder finden die echten im Museum natürlich viel schöner als die Kopien auf dem Balkon der Markuskirche. Auf dem Glockenhaus gegenüber schlagen zwei bronzene Männer zehn Uhr. Die Piazza San Marco wird geflutet mit Menschen und Tauben. Großes Theater in großartiger Kulisse.
Nach dem frühen Traumspaziergang durch das Herz Venedigs fallen wir in einen tiefen Mittagsschlaf. Damit schwindet die Orientierung komplett. Bin ich da? Bin ich dort? Bin ich unterwegs? Das auf jeden Fall.
Fähre statt Vaporetto
Zwei Tage und zwei Nächte in der schwimmenden Stadt liegen vor uns. Die Kinder lieben Venedig von der ersten Minute an. Brücken und Brückchen, schmale Gassen, Eisdielen, Panini und Limonade, Bauwerke, die sie aus Kinderbüchern kennen, und nicht zuletzt die Tauben. Wir finden wunderbare Restaurants, die nicht auf Touristenfang aus sind, fahren mit dem Boot nach Murano und auf die Friedhofsinsel San Michele. Leonie und Sophie werden magisch angezogen von den bunten Kramläden, in denen es Glasdelfine, bunte Briefbeschwerer, mit Ornamenten bemalte Gipsmasken, Ketten, Ringe, kurz, alles gibt, was Mädchen zwischen sieben und neun klasse finden.
"Genug Vaporetto gefahren. Jetzt könnten wir mal langsam auf das große Schiff gehen", läutet Sophie am vierten Tag die nächste Etappe der Reise ein. Die wichtigsten Einkäufe sind getätigt, alle Plätze, Paläste und Brücken besichtigt. 25 Stunden Zeit auf dem Meer liegen vor uns. Vom Hotel sind es gerade mal zehn Minuten Fußweg zur Piazza Italia. Von dort fährt der kleine weiße Bus der Minoan Lines direkt zum Terminal des Adriafährschiffes.
Um 13 Uhr schiffen wir uns auf der "Ikarus Palace" ein. Der etwas antiquierte Ausdruck passt. Steward Theofanos geleitet uns zu unserer Kabine. Ein langer Flur, in dem dicker Teppich alle Geräusche dämpft, führt zu dem geräumigen, kühlen Vierbettzimmer mit Bad und Meerblick.
Obwohl wir noch in Venedig vor Anker liegen, fühlen wir uns wie in Griechenland. Das Küchenpersonal heißt Dimitry und Angelos und die Uhr wird um eine Stunde vorgestellt: osteuropäische Zeit. Es gibt keine Pasta mehr, sondern Schafskäse, gefüllte Weinblätter und Oktopus-Salat. Zum Abschied paradiert das Schiff vorbei an der Stadt. Die Menschen auf dem Markusplatz winken. Fast alle Passagiere stehen an Deck und winken zurück. Eine Sehnsucht spürt man auf beiden Seiten.
Die "Ikarus Palace" fährt den Lido entlang und erreicht das richtige Meer. An Bord gibt es jede Menge zu entdecken: Restaurants, Bars, Läden, einen kleinen Pool. Das Beste aber ist der Wind an Deck. Von dem man sich treiben lassen kann, gegen den man sich lehnen kann. Feucht und warm dreht er die Haarschöpfe in Locken. Einen Tag und eine Nacht dauert die kleine Kreuzfahrt. Langeweile nicht in Sicht!
Der Seeweg ist der schönste
Gegen 15 Uhr steuern wir Korfu-Stadt an. Es ist der fünfte Reisetag. Kein einziges Mal die Frage: "Wann sind wir endlich da?" Buchstäblich war der Weg das Ziel bei dieser Anreise. Keine Spur von Ungeduld, weder bei den Kindern noch bei den Erwachsenen. Als wir in Kerkyra, so heißt die korfiotische Hauptstadt auf griechisch, von Bord gehen, ist es sehr heiß. Die Taxifahrer sind mürrisch, wie überall auf der Welt, wenn man sie nur nach dem nächsten Busbahnhof fragt. Zumal es nur knapp 500 Meter zum Bus-Terminal sind. Das Honigtal im Nordwesten Korfus erreichen wir nach einer weiteren Stunde Busfahrt.
Die weit geschwungene Sandbucht Agios Georgios Pagon ist das Ziel dieser Reise durch halb Europa. Dimitry und Rula Avlonitis sind die nächsten zwei Wochen unsere Gastgeber. Sohn Andreas war einige Jahre als Koch in der Welt unterwegs, bevor er in Kerkyra ein Restaurant eröffnete. Im Sommer kocht er für die Gäste der Eltern. Andreas ist ein weltoffener, kommunikativer Mensch. Er ist zurückgekehrt auf seine Insel, weil er Kerkyra am Ende doch lebenswerter fand als New York City. Seine Küche mischt moderne Einflüsse mit griechischer Tradition. Souflaki, Pizza oder Fisch stehen auf der Speisekarte. Herrlich entspannte Abende verbringen wir so im Pavillon vor unserem Haus. Die Kinder finden jede Menge freien Platz unter Olivenbäumen fern ab vom Autoverkehr.
Die Tage entwickeln eine mediterrane Gleichförmigkeit: Strand, Siesta, Strand, Abendessen. Dazwischen streuen Harry und Steffi, Mitarbeiter des alternativen Reiseveranstalters ReNatour, bei dem wir die Reise gebucht haben, kleinere Ausflüge. Mit Booten oder auf kurzen Wanderungen führen sie uns zu abgelegenen Buchten.
Am Strand selbst gibt es zwei Handvoll Tavernen und Bars. Der eigentliche Ort Afionas liegt malerisch auf einem Felsrücken oberhalb der Bucht. Der Weg in der Abendsonne dort hinauf lohnt allemal. "Einen Ort wie hier kannst du in den USA lange suchen", sagt Andreas. Die Alten wüssten gar nicht, was sie auf ihrer Insel für Schätze hätten.
Wie so oft könnte man nach zwei Wochen Urlaub gern noch eine dranhängen. Aber der Rückflug ist gebucht. Für die Kinder ist es der erste, und entsprechend aufgeregt sind sie. Als wir um acht Uhr morgens die kleine Flughafenhalle von Kerkyra betreten, herrscht drangvolle Enge. Die Lautsprecherdurchsagen sind zu laut und lange Menschenschlangen streben unbekannten Zielen zu. Am Morgen lag Nebel über der Stadt und etliche Flüge wurden verschoben. Reiseleiter halten Zeichen hoch und ermattete Touristengruppen trotten hinterher. Schließlich entrinnen wir dem Chaos mit einer guten Stunde Verspätung. An Bord höre ich eine Stunde nach dem Start das erste Mal den Satz: "Papa, wann sind wir endlich da?" Beim nächsten Mal nehmen wir doch in beide Richtungen den Land- und Seeweg.
Michael Adler