Der Schnee, der schon seit Tagen die Spitzen der Karpaten bedeckt, ist endlich auch im Tal angekommen: Die Schneeschicht, die unter meinen Stiefeln knirscht, wird beständig dicker. Die Fenster, die sonst wie kleine Augen in den roten Ziegeldächern aussehen, blinzeln jetzt aus einer weißen Decke. Auf der Strada Nicolae Bălcescu, der Hauptfußgängerzone, herrscht wie immer geschäftiges Treiben. Aus den Bäckereien steigt mir der verführerische Geruch heißer Gogoşi in die Nase, eine Art gefülltes Schmalzgebäck.
Als ich am Piaţa Mare, dem Großen Ring, ankomme, bleibe ich stehen, um das inzwischen so vertraute Stadtbild auf mich wirken zu lassen. Vor zwei Monaten bin ich als Erasmus-Studentin hierhergekommen, mit bestenfalls dürftigem Wissen über die rumänische und siebenbürgische Geschichte. Nicht zuletzt deshalb traf mich Sibius Schönheit, die hier im Stadtzentrum besonders deutlich zu sehen ist, so unvorbereitet.
Kirchen und Museen im Stadtzentrum
Der Große Ring wird von den blassgelben Gebäuden der katholischen Kirche und des Rathauses dominiert, rundherum säumen Cafés und Restaurants in alten, herrschaftlichen Gebäuden den Platz, in denen meistens reger Betrieb herrscht. Einige der Gebäude hier und am benachbarten Kleinen Ring (Piaţa Mică) beherbergen die Sammlungen der Brukenthal-Museen. Neben einem Pharmaziemuseum im Gebäude der ersten Apotheke Rumäniens und vielen weiteren kleineren Sammlungen, ist vor allem das Herzstück der Sammlung, die Galerie der Europäischen Kunst im Brukenthal-Palais am Großen Ring, absolut einen Besuch wert. Im ersten Stock ist ein Teil der Original-Einrichtung erhalten. Neben alten Möbeln sind auch Instrumente, Skulpturen und kirchengeschichtliche Gegenstände zu bestaunen. Am Ende der Ausstellung kann man einen Teil der wirklich beeindruckenden Bibliothek Samuel Brukenthals sehen, der von 1777-1787 Gouverneur Siebenbürgens war.
Vom Kleinen Ring geht es weiter über die Lügenbrücke (so genannt, weil sie der Legende nach zusammenbricht, wenn man auf ihr eine Lüge erzählt) auf den Huet-Platz, der sich um die große evangelische Stadtpfarrkirche mit ihrem bunt gemusterten Dach zieht. Die Sonntagsgottesdienste werden hier noch regelmäßig auf Deutsch gehalten. Gegenüber von der Kirche steht das Brukenthal-Lyzeum, die deutsche Schule Sibius. Zwischen den beiden Gebäuden findet im Sommer jeden Freitag ein kleiner Bio-Markt statt.
Der Aufstieg auf den Kirchturm ist steil und teilweise schlecht beleuchtet, aber man wird von der Aussicht über die steilen, roten Dächer der Stadt bis zu den Karpaten entschädigt.
Auch die Kuppeln der rumänisch-orthodoxen Kathedrale, keine 500m entfernt in der Strada Mitropoliei, sind vom Turm aus gut zu sehen. Sibiu ist der Sitz der Metropolie Siebenbürgen und somit ein wichtiges Zentrum des rumänisch-orthodoxen Glaubens. Dementsprechend imposant ist auch die Kathedrale der Heiligen Dreifaltigkeit mit ihrer detailreichen Deckenbemalung und der beeindruckenden goldenen Altarschranke.
Einkauf auf dem Wochenmarkt
Über steile Treppen kommt man sowohl vom Kleinen Ring als auch vom Huet-Platz in die Unterstadt. Auch wenn die Häuser hier teilweise nicht im allerbesten Zustand sind, versprüht auch dieser Teil der Stadt seinen ganz eigenen Charme. Und früher oder später endet jeder Spaziergang durch die Unterstadt am Markt auf dem Zibinsplatz/Piaţa Cibin. Auch wenn sonntags manche Stände leer bleiben, ist in Sibiu eigentlich jeder Tag Markttag. Auf den Holztischen auf dem Platz stapeln Bäuer*innen aus dem Umland Obst, Gemüse und Eingemachtes zu riesigen Pyramiden, in den kleinen Geschäften rund um den Platz gibt es Fleisch, Fisch, Käse und Brot. Egal zu welcher Tageszeit ich herkomme, es herrscht immer reger Betrieb.
Als ich Ende September zum ersten Mal hier war, stapelten sich an den Ständen noch Auberginen, Paprika, Tomaten, Weintrauben, Orangen - alles, was im Sommer wächst und alles aus der direkten Umgebung. Jetzt im Winter ist das Angebot gemäß den Naturgesetzen deutlich beschränkter. Kartoffeln, Möhren und Kohl sind die dominierenden Produkte. Immer wieder fällt mir in Rumänien auf, dass Obst und Gemüse viel intensiver schmecken als in Deutschland. Die Bäuer*innen arbeiten hier oft noch so, wie Generationen von Bäuer*innen vor ihnen. Für moderne Maschinen, teures Zuchtsaatgut und Kunstdünger fehlt schlicht und einfach das Geld.
Kein Wunder: An manchen Marktständen kostet ein Kilo Auberginen nur 2 Lei, umgerechnet circa 50 Cent. Das Preisniveau in Rumänien entlockt mir als Deutscher immer wieder ungläubiges Staunen. Aber bei einem Mindestlohn von umgerechnet ca. 450€ im Monat müssen natürlich auch die Lebenshaltungskosten entsprechend niedrig sein. Sibiu liegt dabei noch in einer eher teuren Region Rumäniens.
Musik und Theater
Zurück in der Oberstadt führt mich mein Weg über den Großen Ring und den Friedrich-Schiller-Platz zur Strada Cetății, die oft als die schönste Straße Sibius bezeichnet wird. Auch wenn die Häuser hier diese Bezeichnung verglichen mit anderen Straßen nicht rechtfertigen, geben die Reste der Stadtmauer mit den drei Wachtürmen der Straße ein ganz besonderes Aussehen. Am Ende der Stadtmauer steht der Dicke Turm, der mit seinen meterdicken Mauern und kleinen Fenstern früher ein Teil der Stadtverteidigung war. Heute beherbergt er die Philharmonie. Unter anderem gibt das Sinfonieorchester Sibiu hier jeden Donnerstag Abend Konzerte, die stets gut besucht sind.
Nicht nur Konzerte, auch Theateraufführungen stehen in Sibiu auf der Tagesordnung. Im Radu-Stanca-Nationaltheater kommen neben rumänischen auch deutschsprachige Produktionen auf die Bühne. Außerdem finden jedes Jahr im September ein Opernfestival und im Oktober verteilt über die Stadt das renommierte Astra-Dokumentarfilmfestival statt. Bei all diesen kulturellen Angeboten, die auch für die lokale Bevölkerung in der Regel durchaus bezahlbar sind, verwundert es nicht, dass 2007, dem Jahr von Rumäniens EU-Beitritt, die Wahl für den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ auf Sibiu fiel.
Die Siebenbürger Sachsen heute
Meine letzte Station heute ist das Erasmus-Büchercafé. Die Buchhandlung ist eine von mehreren in Siebenbürgen (Transsilvanien), die vorwiegend deutschsprachige Bücher verkauft. Das Ladenpersonal begrüßt mich beim Reinkommen freundlich auf Deutsch. Sie kennen mich, denn die deutsche Gemeinschaft in Sibiu ist klein. Bei den vielen deutschsprachigen Veranstaltungen, wie zum Beispiel den Lesungen hier im Büchercafé, begegnet man immer wieder denselben Menschen.
Die lange Geschichte der Siebenbürger Sachsen in Rumänien hat viele spannende Kapitel. Besonders überrascht mich aber immer wieder, wie sehr die heutigen Siebenbürger Sachsen, deren Vorfahren oft ja schon seit vielen hundert Jahren in Rumänien leben, sich selbst als Deutsche und nicht als Rumän*innen ansehen.
Auch das Gefühl der Überlegenheit, dass viele Siebenbürger Sachsen im Laufe der Geschichte ihren rumänischen Mitbürger*innen gegenüber empfanden, ist in Teilen noch spürbar. Vielleicht ist das der Grund, warum das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien schon seit vielen Jahren konstant die Mehrheit im Stadtrat stellt, obwohl nur noch knapp 2% der Einwohner*innen Sibius zu den Siebenbürger Sachsen gehören. Der ehemalige sächsische Bürgermeister Sibius, Klaus Johannis, wurde 2014 zum rumänischen Präsidenten gewählt.
Nach einer gemütlichen Teepause in den schönen, lichtdurchfluteten Räumen des Büchercafés trete ich wieder hinaus in die Kälte und mache mich auf den Rückweg zu meinem Wohnheim. Noch immer tanzen Schneeflocken durch die Luft. Der Schnee auf den Bergspitzen der Karpaten, den ich in den letzten Tagen schon sehnsüchtig betrachtet habe, bleibt heute hinter den dichten Schneewolken verborgen.