Ein bisschen mehr Begeisterung dürfte schon sein. Die Ankündigung, dass die Familie die Karnevalsferien in der deutschen Hauptstadt verbringen wird, lässt den Nachwuchs überraschend kalt. "Die Hauptstadt, Kinder! Reichstag, Mauermuseum …" Auch der Versuch, Sohn und Tochter mit jugendnaher Kultur mitzureißen, gelingt nur teilweise: "Fußball? Ich bin doch nicht bescheuert. Das könnt ihr vergessen", streikt die 12-jährige Tochter. Dafür weckt der versprochene Hertha-Besuch wenigstens beim Sohn erste Zeichen von Begeisterung.
Vielleicht ist es so, dass vier Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts – auch wenn sie zu einer Familie gehören – einen Tag in einer Stadt grundsätzlich unterschiedlich gestalten würden. Vielleicht müssen nicht die Kinder, sondern erst mal die Eltern Kompromisse machen? Boulevard statt Beethoven. "Gehen wir ins Musical, während die Männer ins Stadion gehen?” Und schon ist die Tochter in ihrem Zimmer und überlegt, was sie anzieht.
Olympia-Stadion und Musical-Theater
Während Jungs in der Freizeit gerne mit den Kumpels auf dem "Bolzer” rumhängen oder in den Nachbargärten Spion spielen, verabreden sich Mädchen zum Shoppen oder Bravo-Lesen. Blöde Vorurteile? Mag sein, aber manchmal erleichtert es den Alltag, nicht gegen das Offensichtliche anzukämpfen. Also wird die lange Liste der möglichen Unternehmungen in Berlin in zwei Spalten geteilt: Fußball, Zoo und Dino-Skelett landen klar auf der Jungsseite. Musical, Shoppen und Chillen werden unter der Rubrik "Mädchen” geführt.
Samstagnachmittag ist Fußball – und Primetime im Musical-Theater am Potsdamer Platz. Gespielt wird "Mamma Mia”. Schon im Foyer kollidieren Busladungen bestens gelaunter Senioren. Die "Abba-Generation” fasst sich selbst weit und reicht von 40 bis 100. Das Haus ist trotz beachtlicher Ticketpreise brechend voll. Die großteils weiblichen Zuschauer folgen begeistert der romantisch-klamaukigen Komödie, die sich um die bekanntesten Songs von Abba rankt. Wäre man jemals hier gelandet, wenn man keine Kinder hätte?
Aber sobald die Lichter ausgehen, der Dirigent den E-Musikern den Einsatz gibt und die ersten Abba-Songs anklingen, ist auch bei den anwesenden Bildungsbürgern die Verachtung fürs Boulevard-Theater vergessen: Zuerst stehen die Mitvierzgerinnen auf, klatschen und singen die bekanntesten Abba-Hits ihrer Jugend mit. Dann folgt der Rest. Beim Finale tanzt und singt es auf allen Rängen. "Das war super. Können wir das nochmal sehen?", bettelt die Tochter.
Berliner Kneipenkultur
Am Abend folgt die Wiedervereinigung mit dem männlichen Teil der Familie, der schon bei Bier, Limo und Pizza das Spiel diskutiert. Das ist ja wohl komplett in die Hose gegangen. Die Abwehr hat es vergeigt, da sind sich Vater und Sohn einig. Die beiden haben das Spiel trotzdem genossen. Der Vater ist begeistert vom Olympia-Stadion und hört gar nicht mehr auf zu schwärmen, mit welch organisatorischer Meisterleistung die S-Bahn nach dem Spiel das Publikum zurück in die Innenstadt gebracht hat.
Was die S-Bahn an Punkten macht, verspielt die BVG (Berliner Verkehrsbetriebe) in den folgenden Tagen: Sie streikt. So führen unfreiwillige Spaziergänge entlang des Mauerstreifens und an historischen Bahnhofsarealen vorbei zu anschaulichen Lektionen in Sachen Zeitgeschichte. Erst ein großer Umweg zu Fuß führt – ironischerweise vorbei an den Streikposten vor der BVG-Zentrale – endlich zum Eingang des Technik-Museums.
Jungsprogramm oder Mädchenprogramm? Die Unterschiede verwischen schnell. Klar, Shoppen bleibt Frauensache. Da gehen die Männer schon mal auf eine Pommes, während Mutter und Tochter in Klamottenregalen wühlen oder sich im "Kulturkaufhaus” Dusmann auf einem der gemütlichen Sofas festlesen. Aber aufs Technik-Museum möchte niemand verzichten. Gut so, denn auch hier braucht es starke Frauen. "Unsere letzte Schmiedin war eine Frau”, erzählt ein Museumsführer, der die Familie bei einer Pause auf dem Außengelände aufstöbert. "Eine ganz kleine, zierliche Frau, aber unheimlich stark.” Seit sie das Museum verlassen hat, ist die Schmiede verwaist. Aber der Museumsmitarbeiter schließt die Tür doch auf und zeigt die Werkzeuge. "Nichts für Mädchen? Mal sehen, ob du den halten kannst!”, sagt er und drückt der 10-Jährigen einen gigantischen Schmiedehammer in die Hand. Auch der Bruder will mal probieren, ob er so einen Hammer schwingen könnte. "Das wäre kein Job für mich”, urteilen beide Kinder.
Schokotorte im Reichstag
Dann eher noch Politikerin! Obwohl es dafür noch an der nötigen Ernsthaftigkeit fehlt. Statt sich vor dem Kanzleramt von Fragen wie "Wisst ihr eigentlich, was ein*e Bundeskanzler*in macht?” ködern zu lassen, fangen die Geschwister an, sich zu schubsen, den Tauben nachzulaufen oder SMS zu tippen. Erst die strenge Kontrolle am Eingang des Reichstags bringt die Aufmerksamkeit zurück. "Warum werde ich hier durchgescannt wie am Flughafen?”, ist die Kinderfrage, auf die die Eltern endlich ihre Erklärungen zum Berliner Politbetrieb loswerden können. Das beste ist aber immer noch, dass man sich unter der gläsernen Kuppel auf den Rücken legen und in den freien Himmel schauen kann. Und dass es im Café auf dem Flachdach des Reichstags Schokotorte gibt. Bei Limo und Kuchen halten die beiden wenigstens so lange still, dass es für eine kurze Belehrung zur Geschichte der Bundesrepublik reicht. Das Stück Torte kostet 4 Euro und ist schnell verputzt. Mehr Geschichte ist heute nicht.
Am Ende haben die Eltern in Berlin am meisten gelernt. Ohne Kinder hätten sie sich niemals drei Stunden im privaten Mauermuseum am Checkpoint Charlie aufgehalten, Fluchtfahrzeuge begutachtet und Tunnelbautechniken diskutiert. Sie hätten vermutlich keinen gemütlichen Abend vor dem Fernseher in einer Schwulenbar am Prenzlauer Berg verbracht, sich nicht bei einem Prizzelbad in der Hotelbadewanne entspannt oder Pizza aufs Zimmer bestellt. Sie hätten wieder keine Eisbären gesehen. Und auf ihrem Programm hätte sicher weder Fußball noch Musical gestanden – und das wäre sehr schade gewesen.