Wonach suchst du?

Das Bild zeigt das sogenannte Bothy, eine Schutzhütte.

Statt im Zelt kann an manchen Orten auch in einer Schutzhütte, einem sog. Bothy, übernachtet werden. / © Ricah Wedegärtner

Von Küste zu Küste: Alleine wandern in Schottland

Anderswo-Autorin Ricah Wedegärtner hat sich aufgemacht, den Southern Upland Way in Schottland ganz allein zu meistern. Fast 350 Kilometer zu Fuß von Küste zu Küste.

"Walkers are welcome here" begrüßt mich das Schild an der Tür des Beehive Bothy, irgendwo im Wald. Aus den Augenwinkeln sehe ich noch den kleinen Fuchs, der eilig im Dickicht verschwindet. Nebenan plätschert ein Bach, der torfig braunes Wasser führt. Den letzten Schafen bin ich vor einer Stunde begegnet, als ich eine Farm und das weite Moor hinter mir ließ. 45 Kilometer liegt das hübsche Portpatrick mit seinen weißen Steinhäuschen nun zurück – und etwa 300 Kilometer schottische Landschaft liegen vor mir. Ich drücke die Klinke nach unten und trete in eine kleine Stube mit breiten Holzbänken. Draußen tropft der Regen auf die Fensterscheiben.

Einige Wochen vorher in Bonn. Feierabend, überall sind Menschen. Seit Tagen klettern die Temperaturen immer höher, jenseits der 30 Grad. Autos drängeln sich an Fahrrädern vorbei und die wiederum an Fußgänger*innen. Es riecht nach Abgasen. Es ist laut. „Ich muss hier raus“, denke ich. Ich will einfach nur allein sein.

Der Southern Upland Way – 347 Kilometer

Zu Hause recherchiere ich schottische Wanderwege. Vier Jahre liegt meine erste Solo-Wanderung auf dem West Highland Way nun zurück. Ziemlich lange für etwas, von dem man sich versprochen hat, es bald wieder zu tun. Ich stoße auf den Southern Upland Way. Schottlands erster offizieller Fernwanderweg führt von Portpatrick an der Westküste nach Cockburnspath an die Ostküste, von wo es nicht mehr weit zur Grenze Englands ist. Der Weg scheint wenig bekannt und ist 347 Kilometer lang –  länger als alles, was ich bisher gewandert bin. Mit oft 30 Kilometern haben es die Etappen in sich. Da ich seit einiger Zeit anfällig für Knieschmerzen bin, ist meine größte Sorge: „Was, wenn ich es nicht schaffe?“ Weitere Horrorszenarien machen sich breit, ganz vorn mit dabei: Gewitter im Freien und Männer mit bösen Absichten. Aber der Wunsch, den Weg allein zu wandern, setzt sich durch. Erstmals soll das Zelt mit. Ich will unabhängig von Unterkünften sein, in meinem ganz eigenen Tempo gehen.

Mit 16 Kilo auf dem Rücken stehe ich Mitte August aufgeregt in Brüssel und warte auf den Zug durch den Ärmelkanal. Ich zweifelte lange, mein Vorhaben durchzuziehen, sodass ein Tag vor Abfahrt kein Standardticket für den Eurostar mehr verfügbar war. Die Antwort auf die Frage „Vertagen oder in den sauren Apfel beißen und ein teures Ticket kaufen?“ war eindeutig. Also sitze ich mit einem Interrailpass 1. Klasse (ja, so etwas gibt es!) im Wander-Outfit zwischen all den Businessmenschen. Ich fühle mich etwas deplatziert,  genieße aber die kostenlosen Leckereien. Währenddessen ziehen Landschaften am Zugfenster vorbei. „Would you like another cup of tea?“ – „Yes, please.“

Übernachten in einfachen Berghütten

Gleich auf der ersten Etappe werde ich dank Starkregens bis aufs Unterhemd nass. Der nächste Abschnitt zum Bothy verläuft freundlicher. Bothies heißen die unverschlossenen Hütten in Schottland. Einfache Selbstversorgerlager für Wanderer, die wilde und einsame Orte lieben. Eine Toilette gibt es meist nicht. Abends angekommen, lautet mein Plan: in Ruhe draußen kochen und mich danach drinnen in den Schlafsack kuscheln. Doch plötzlich spüre ich einen Stich in der Hand, wo ein winziges Insekt sitzt. Irgendwas krabbelt mir ins Gesicht und in die Nase. Ein Blick nach oben und ich entdecke die graue Wolke über mir: Midges. Lästige beißende Mücken, die typisch für den schottischen Sommer und oft genau da sind, wo man sie am wenigsten braucht: an schattigen, windstillen Orten. Sie fallen erbarmungslos über jede*n her, der Stillstand wagt. Also umkreise ich wie ein Raubtier den Kocher, stets von der Wolke verfolgt. Als die Nudeln endlich fertig sind, greife ich mir den Topf und flüchte nach drinnen.

Fast alle anderen Nächte verbringe ich im Zelt. Wildcampen ist in Schottland erlaubt und ein ganz besonderes Abenteuer. Was auf der Karte nach Blümchenwiese aussieht, ist in der Realität aber oft viel zu sumpfig zum Zelten. Manchmal übernachte ich deshalb in Bothies oder auf Campingplätzen. Ob ich den kompletten Weg gehe, werde ich oft gefragt, wenn ich jemanden treffe. Jedes Mal entgegne ich ziemlich unsicher, dass ich es versuche. Denn der Southern Upland Way scheint so lang – und Fernwandern ist nicht gerade Wellnessurlaub. Wenn mir der Regen ins Gesicht peitscht, die Füße schmerzen und der Rucksack drückt, muss ich ganz schön kämpfen. Besonders bergauf.

Frau wandert allein

Die Galloway Mountains mit ihren Granitfelsen zeigen sich von ihrer schönsten Seite. Hier ist niemand mehr, noch nicht mal Schafe. Als ich das Bothy White Laggan betrete, das malerisch zwischen zwei Bergen liegt, finde ich es doch ein bisschen unheimlich so ganz allein hier draußen. Der nackte Steinboden ist staubig und führt in ein geräumiges Wohnzimmer. Über der Tür weht die schottische Flagge, und der Geruch von Feuer verrät, dass hier erst vor Kurzem ein Abend am Kamin stattgefunden haben muss. Mobilfunknetz gibt es (mal wieder) nicht. Bleibt also viel Zeit, durch die liebevollen Reiseberichte im Gästebuch zu blättern. Ich schlafe gut, sicherheitshalber bewaffnet mit Mückenspray und Trillerpfeife.

Schritt für Schritt geht es weiter gen Osten. Nach tagelangem Waten durch Moorlandschaften mit oft knöcheltiefen Pfützen geben meine Bergstiefel schließlich auf und ich bekomme nasse Füße. Ein Hoch auf die Wanderstöcke, mit denen ich eifrig im Boden herumstochere, um trittsichere Inseln auszumachen. Zwischen lautem Fluchen muss ich einmal grinsen, als in einer besonders großen Pfütze ein Rettungsring schwimmt.

Als der Regen mich in Dalry einholt, tue ich das einzig Vernünftige: erstmal in den lokalen Pub einkehren. Feuer knistert im Kamin und wirft warmes Licht auf die schweren Holzmöbel. Gitarrenmusik erfüllt den Raum. Tea time? „Trink Whisky, schließlich bist du in Schottland“, begrüßt man mich. Der Aufforderung komme ich gern nach und lerne, dass man „Dalrei“ sagt und dabei das „r“ rollt.

Beim Wandern denke ich herrlich wenig nach. Stattdessen setze ich einfach einen Fuß vor den anderen. Manchmal frage ich mich, ob mir wohl andere Wanderer*innen folgen. Am Ende einer Etappe überholt mich tatsächlich jemand: ein drahtiger, gut gelaunter Waliser in Shorts und Turnschuhen. Ich habe – völlig entkräftet – bereits mein Nachtlager aufgeschlagen, als er auf mich zukommt und verkündet, er würde weitergehen: „Sind ja nur zehn Meilen.“ Beeindruckt streift mein Blick seinen winzigen Rucksack. „Ich komme gerade von Wanlockhead“, sagt er und winkt. Etwas verdutzt bleibe ich zurück. Dort war ich vorgestern.

Im höchsten Dorf Schottlands

Wanlockhead ist das am höchsten gelegene Dorf Schottlands. Auf 425 Meter Höhe erzählt es von Zeiten, in denen dort Bleierz abgebaut wurde. Tagesbesucher*innen tummeln sich vor dem Museum und genießen die Sonne. Im Tearoom gibt es den ersten Caffè Latte seit Langem für mich. Stärkung für den nächsten Kraftakt: Auf geht‘s zum höchsten Punkt des Fernwanderwegs – Lowther Hill – mit 725 Metern zwar kein Munro (schottischer Berg über 3.000 Fuß = 914,4 Meter), aber mit gigantischer Aussicht.

Bald verlasse ich den Westen und der Boden wird trockener, mein Gang sicherer. Die Hälfte des Trails passiere ich bei wolkenlosem Himmel und etwa 26 Grad. Heute bin ich extra früh gestartet, um bei Sonnenhöchststand den Wald zu erreichen. Leider stellt sich heraus, dass der abgeholzt wurde, und so wird es ein langer, heißer Tag. Ist das wirklich Schottland? Oh ja, denn die nächsten Tage bringen Wind, der mich wütend von links nach rechts wirft, aber auch die Berge hochpustet – ein positiver Nebeneffekt.

Einsam unterwegs

Die unzähligen Tore zu Schafsweiden öffne und schließe ich irgendwann wie im Schlaf. Oft geht es direkt durch Kuhherden. Nicht nur einmal drehe ich mich nervös um und werde von 100 Augenpaaren eindringlich angestarrt. Menschliche Spuren sind rar – in 16 Wandertagen zähle ich insgesamt nur zwei Paare und drei Solo-Wanderer. Trotzdem gibt es viele Gespräche. Oder gerade deshalb. Auf Campingplätzen und in Pubs sind viele Menschen neugierig, was ich hier mache. „Du bist mutig, das würde ich mich nicht trauen“, sagen besonders oft Frauen mit sehnsuchtsvollen Gesichtern. Was hält einen auf? Die Antwort fällt nicht leicht, habe ja selbst jahrelang gewartet. Auf einem Zwischenstopp in Carlisle lerne ich eine Engländerin kennen, die auch allein wandert. Sie ist unterwegs zum Hadrian’s Wall Path, einem National Trail in Nord-England. Sie verrät mir mit leuchtenden Augen: „Einmal im Jahr brauche ich diese Zeit ganz für mich.“

Dann kommt er schließlich, der letzte Morgen im Freien und mitten in der wilden Natur. Kühl und herbstlich ist es. Routiniert packe ich die klammen Sachen in den Rucksack und rolle ein letztes Mal das Zelt zusammen. Heute Abend werde ich in einer gemütlichen englischen Jugendherberge einkehren, um tags darauf Richtung Alltag zu reisen. Die letzte Etappe führt vorbei an Farmhäusern und großen Feldern mit Strohballen. Ab und zu nieselt es.

Nur noch zehn Kilometer nach Cockburnspath – ein mulmiges Gefühl macht sich breit. Ich freue mich darauf, das Ziel zu erreichen, aber gleichzeitig ist es auch das Ende dieser wunderbaren Auszeit. Und dann stehe ich plötzlich am Meer. Ich habe es geschafft. Einmal quer durch Schottland von der einen zur anderen Küste. Ein freundlicher Herr heißt mich im Vorbeigehen willkommen. Ob ich den ganzen Weg  gegangen bin? Ich strahle ihn selbstbewusst an: „Ja klar!“ 

Der Weg

www.southernuplandway.gov.uk

Tipp: Wanderführer mitnehmen, z. B. A. Castle & R. Turnbull, Cicerone 2018: The Southern Upland Way – Scotland‘s Coast to Coast trail.

Die Anreise

Von Brüssel via Eurostar nach London. Weiter z. B. über Glasgow nach Stranraer und mit dem Bus nach Portpatrick. Zwischenübernachtung einplanen.

www.travelinescotland.com
www.eurostar.com
www.interrail.eu
www.bahn.de

Alle Infos zur Anreise nach Großbritannien haben wir auch unter unserem Anreiseservice "Zügig durch Europa" zusammengestellt. Die Informatione zu günstigen Tickets findet ihr unter den Sparangeboten zu Großbritannien.

Übernachten und Campen

Passende Reiseveranstalter

 

Geführte Radreisen durch Schottland bietet biketeam radreisen.

Wanderreisen können z.B. über Boundless, Hillwalk Tours oder Unterwegs - die Reise GmbH gebucht werden.

Wanderreisen speziel für Frauen bieten die Veranstalter WomenFairTravel und Walk Wild an.