"Hilfe, wir sinken!" Nein, keine Sorge, kein Grund zur Panik. Nicht unser Kanu sinkt – zumindest nicht im eigentlichen Sinne. Lediglich der Wasserstand in der Schleuse Altenberg sinkt rapide, und mit ihm fallen wir auf das tiefere Wasserniveau unterhalb der Schleuse ab. Die mächtigen Stahltore vor uns recken sich immer weiter in den Himmel, die mit Moos bedeckten Wände rechts und links von uns werden immer höher. Hinter uns drückt das Wasser durch Ritzen und Spalten in die Schleusenkammer. Es wird dunkler, der blaue Himmel über uns verschwindet fast. Unter Wohlfühlambiente verstehe ich persönlich etwas anderes.
Umso schöner der Moment, als meine 13-jährige Nichte Ursula die schweren Schleusentore vor uns endlich öffnet. Mit ihrem ganzen Körpergewicht stemmt sie sich hoch über uns gegen die Hebelarme, die die Tore bewegen. Die Schleusenkammer öffnet sich, die Sonne tritt wieder ins Blickfeld. Mein Puls entschleunigt sich merklich. Statt gefangen wie ein Fisch im Aquarium, fühle ich mich endlich wieder frei. Vor uns tut sich ein Naturparadies auf: Die Lahn liegt jungfräulich vor uns, die leicht gekräuselte Oberfläche lässt die unterhalb einer Schleuse typische Strömung erahnen. Die Uferböschungen sind beiderseits von dichtem Grün gesäumt. Hinein ins Paddelparadies!
Die jährliche Kanuwanderung ist inzwischen eine liebgewonnene Tradition unseres Paddel-Teams. Für dieses Jahr haben wir uns den Paddelfluss in Deutschland schlechthin ausgesucht: die Lahn. In drei Tagen wollen wir von Wetzlar nach Runkel paddeln. 53 Kilometer, acht Schleusen und vier Nächte im Zelt warten auf uns.
Gegen den Mainstream
Es ist Freitag, einer der wenigen Sonnentage dieses Sommers. An der Kanustation in Wetzlar liegen zahlreiche Boote in Reih und Glied. Sie warten aufs Zuwasserlassen und auf eifrige Paddler*innen, die sie die Lahn flussabwärts treiben. Letzteres haben auch wir vor. Allerdings mieten wir unsere Boote nicht bei einem der zahlreichen Kanuverleiher entlang des Flusses, sondern bringen sie selbst mit. Es sind drei Kanus vom ältesten Faltboot-Hersteller der Welt, der Klepper Faltbootwerft aus dem oberbayerischen Rosenheim. Außerdem haben wir uns von Freunden einen Kanadier geliehen. Die Kanutour beginnt für uns deswegen nicht erst mit dem Überstieg vom Steg ins Boot, sondern schon mit dem Zusammenbauen der Faltboote. Gehört diese Latte auf die linke oder die rechte Seite? Ist das das Heck oder der Bug? Vorsicht, nicht drauftreten! Bei allem Durcheinander aus Kinderhänden, Erwachsenenkommandos, Kielböden, Bordwänden und Klimmstäben merkt man dennoch, dass unser Paddel-Ensemble nicht zum ersten Mal auf Tour geht.
Selbst Hand anlegen, dafür gibt es bei einer Tour auf der Lahn jede Menge Gelegenheiten. Die Schleusen entlang der Strecke müssen allesamt von der Bootscrew selbst bedient werden. Auch deswegen ist die Lahn für eine Familientour bestens geeignet, denn für Abwechslung ist so jederzeit gesorgt: aus dem Boot klettern, Tore auf, Klappen zu – oder andersrum? Die Kinder begreifen die Funktionsweise der Schleusen schnell; Physik zum Anfassen.
So schippern wir am ersten Tag von Wetzlar durch die Schleusen Altenberg sowie Ober- und Niederbiel bis zum Campingplatz Schohleck. Den Ausstieg haben wir im ersten Anlauf verpasst. Jetzt eine elegante Kehrtwende mit dem Kanu und dann volle Pulle alles, was geht, gegen die Strömung paddeln. Die letzten Kräfte werden mobilisiert und die Ausstiegsstelle doch noch erreicht. Puh.
An der Feuerstelle des Campingplatzes packt Thomas auch endlich seinen Hobokocher aus. Statt Gas wie ein klassischer Campingkocher verbrennt der Hobo Astholz, Reisig und Zapfen. Ein Hauch von Lagerfeuer-Feeling. Vor allem Johannes ist begeistert. Was ihm am Paddeln denn am besten gefällt, frage ich meinen 11-jährigen Neffen. „Das Schwimmen im Fluss“, sagt er mit strahlenden Augen, „und die Tomatensuppe vom Hobokocher.“
Was wir sonst noch erleben und wie es uns ergeht, als wir bei Weilburg den einzigen schiffbaren Tunnel Deutschlands befahren, lest ihr im Anderswo-Magazin 2022.