Schule? Unterricht? Lernziele? In Nab Cottage, einer kleinen Sprachschule im englischen Lake District, läuft der Unterricht anders als erwartet. Statt im Klassenzimmer zu sitzen und Grammatikfragen zu beantworten, grooven 14 Schüler*innen und ihre vier Lehrer*innen am ersten Kurstag in einer zum Gruppenraum umgebauten Scheune zu flotter Popmusik. Einer gibt die Bewegung vor, die anderen machen sie nach. Alex aus Barcelona, der erst spät in der Nacht angereist ist, wacht plötzlich aus seiner Trance auf und beweist sich als echter Hip-Hopper. Mayela, eine junge Mexikanerin, die bisher eher schweigsam war, entspannt sich und nimmt seinen Rhythmus auf. Zwar ist es für die meisten irritierend, dass am ersten Tag des Englischintensivkurses nur wenig gesprochen und schon gar nicht im eigentlichen Sinn gelernt wird. Doch die Stimmung schlägt schnell von kritisch-distanziert ins Ausgelassene um. Alle haben Urlaub, und Tanzen macht schließlich Spaß. Genauso wie der "Menschenknoten": Mit viel Über-Arme-Klettern und Hin- und Herwinden versucht die multinationale, äußerst heterogene Gruppe, aus dem Gewirr von Händen, Armen und Körpern einen ordentlichen Kreis zu machen. Kaum ist das geschafft, ruft Schulleiterin Liz schon die nächste Aufgabe in den Raum: "Wie viele hier haben ein Haustier?" Wie viele hier wissen überhaupt, was Haustier auf Englisch heißt?, wäre eine ebenso interessante Frage. Jana aus der Slowakei besitzt einen Vogel, einen Hund, Katzen und diverses Kleingetier. Ah, sie ist Tierärztin. Die zierliche Majou, die bisher kaum etwas gesagt hat, schafft es fast ohne Worte, die Sehnsucht nach ihrem Hund zu vermitteln, den sie zuhause in Japan lassen musste. Sie hat Heimweh und sucht auffallend oft den Kontakt zu dem alten Haus- und Hofhund der Schule, der sich jederzeit gern zum Kuscheln und Trösten zur Verfügung stellt. "Wie viele rauchen, … haben Geschwister, … sprechen mehr als zwei Sprachen?", geht die Fragerunde weiter.
Selbstreflexion statt Grammatik
Wer sich auf den unorthodoxen Tagesablauf einlässt, merkt schnell, wie die innere Spannung nachlässt. Zwar sind alle noch etwas unsicher in der neuen Gruppe und fragen sich, ob sie gut genug Englisch sprechen und wie sie bei den anderen ankommen. Doch diese Fragen, die man sich stets beim Arbeiten in einer neuen Gruppe stellt, treten schnell in den Hintergrund. Während die Kursteilnehmer*innen noch rätseln, wohin die unterschiedlichen Aufgabenstellungen führen und was das mit einem Englisch-Intensivkurs zu tun hat, haben sie schon vorsichtige Freundschaften entwickelt, zusammen gelacht und sich bei viel Bewegung die Anspannung aus den Knochen geschüttelt. Irgendwas läuft hier gut, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz verstanden haben, was es ist.
Erst viele Tage später wird Tim, der mit seiner Frau Liz die Schule leitet, erklären, was hinter den unterschiedlichen Aufgaben und dem unkonventionellen Kursaufbau steckt. "Wir wollen eine Atmosphäre schaffen, in der man Spaß miteinander hat und keine Angst, etwas falsch zu machen", sagt er. "Die feste Rolle, die wir im Alltag haben, und die Angst vor peinlichen Fehlern sind es, die uns beim Lernen im Weg stehen." Vertrauen, Sicherheit und Spaß seien, sagt Tim, Türöffner für ein entspanntes und positives Lernen.
Das Prinzip leuchtet ein, sobald man es selbst erlebt hat. In einem der Klassenzimmer, die es in Nab Cottage auch gibt, geht die unkonventionelle Aufgabenstellung am nächsten Morgen weiter. Wer Grammatikübungen oder Lektüre erwartet hat, wird wieder enttäuscht. Erst einmal ist Selbstreflexion angesagt. "Zeichne eine Mind Map mit dir in der Mitte und den fünf Dingen, die in deinem Leben die größte Bedeutung haben", sagt Lehrerin Nicki. Als sie die Aufgabe nach ein paar Minuten beenden will, tauchen ihre acht Schülerinnen und Schüler aus tiefer Versunkenheit auf. "Ich bin noch lange nicht fertig", sagt Alex. Bei der nachfolgenden Partnerübung erfährt Rebecca von Carles, dass der Physikprofessor lieber Schauspieler geworden wäre und schon mal als Komparse mit einem berühmten Regisseur gearbeitet hat. Rebecca hat Carles von ihrer kleinen Tochter erzählt, die gerade bei den Großeltern ist, und vom Schwimmsport, den sie mit großer Leidenschaft betreibt. Nicki hört aufmerksam zu, verbessert und ermuntert auch die zum Reden, die sich noch schwertun. "Nur wenn ihr rauskommt aus eurer comfort zone, lernt ihr etwas dazu", erklärt sie. Raus aus der einengenden Sicherheit, rein in die Persönlichkeitsentwicklung: Dieser Anspruch beschränkt sich in Nab Cottage nicht nur aufs Erlernen einer Fremdsprache.
Recherchieren und debattieren
Nach und nach kommen jedoch auch die üblichen Lernmethoden zum Zug. Jana, Marisa, Rebecca und Alessandro sitzen im Kaminzimmer und diskutieren über den Klimawandel. Sie sind sich einig, dass er menschengemacht ist und durch den ständig wachsenden Energieverbrauch immer bedrohlicher wird. Jana schreibt, Rebecca recherchiert im Internet – alle haben Wörterbücher oder ihr Handy auf dem Schoß und suchen die richtigen Fachbegriffe. Die Hausaufgabe, an der sie arbeiten: in einer Debatte über den Klimawandel die Position der Umweltaktivist*innen gegen die Leugner*innen des Klimawandels vertreten. Jana ist Slowakin, Marisa Katalanin, Rebecca Spanierin und Alessandro Italiener. Mit gerade einmal 19 Jahren ist der Büroangestellte der Jüngste der Gruppe, die Älteste ist um die 50. Im normalen Leben arbeiten die vier an der Uni, in der Atomindustrie und in der Bekleidungsproduktion.
Alle Schüler in Nab Cottage verbindet ein gemeinsames Ziel: Sie wollen möglichst schnell möglichst viel Englisch lernen und haben nach einer Sprachschule gesucht, die nicht zu teuer ist und trotzdem intensives und individuelles Lernen ermöglicht. Sie investieren Geld und Freizeit in dieses Ziel und achten kritisch darauf, dass sie es auch erreichen. "Nicht Englisch zu sprechen ist der Analphabetismus unseres Jahrhunderts", erklärt der 50-jährige Physikprofessor Carles aus Barcelona seine Motivation, noch einmal die Schulbank zu drücken. Seine Student*innen sind jung, auslandserfahren und mehrsprachig. Die Fachtagungen, die er besucht, sind international. "Wer kein Englisch spricht”, sagt Carles, "ist abgehängt.”
Küchendienst zum Englischlernen
Beim Begrüßungsdinner am ersten Abend in Nab Cottage ist der Wissenschaftler allerdings noch skeptisch, ob er die richtige Schule gewählt hat. Misstrauisch beäugt er die jungen Mitschüler*innen und das eher hippieske Ambiente. In den Klassenräumen nehmen gemütliche Sofas und kuschelige Kissen mehr Raum ein als Tisch und Tafel. Lehrerin Hannah wirkt so verträumt und elfenhaft, als käme sie direkt aus Shakespeares Mitsommernachtstraum. Und die Schulleitund bestehend aus Liz und Tim könnte mit ihrer entspannten Art auch ein Yoga-Zentrum leiten.
Auch Jana, der Tierärztin und Universitätsdozentin aus Bratislava, stehen die Zweifel über ihre Schulwahl am ersten Tag noch ins Gesicht geschrieben. Sie ist heute als eine der Ersten mit Küchendienst dran – Tischdecken, Essen und Getränke servieren, für Nachschlag sorgen. Als Schulleiterin Liz nach dem Essen zu ihr geht und sie darauf hinweist, dass sie nun auch noch allen Kaffee oder Tee anbieten soll, rollt die Slowakin genervt mit den Augen. Leicht ironisch mimt sie die Kellnerin, nimmt Bestellungen auf und serviert Espressi und Kräutertee.
"Die Idee mit dem Küchendienst ist aus der Not geboren", gesteht Liz. "Als wir die Schule vor über 20 Jahren eröffneten, hatten wir drei kleine Kinder und hätten es ohne die Mithilfe der Schüler*innen gar nicht geschafft." Dann zeigte sich, dass das gegenseitige Bedienen es den Schüler*innen leichter machte, in Kontakt zu kommen. Auch die Schüchternsten mussten den Mund aufmachen, und alle lernten ganz nebenbei das Vokabular rund um Küche, Essen und Restaurantfloskeln. "Inzwischen gehört diese kleine Mithilfe fest zu unserem pädagogischen Konzept", sagt Liz.
Auch die klassische Lektüre kommt dran. Doch statt am Tisch zu sitzen, fläzen die Schüler auf dem durchgesessenen Sofa oder liegen auf dem Boden. Sie lesen einen Umwelt-Science-Fiction-Roman, eine Art "1984" in einer Welt nach dem Klimawandel. Für das aktuelle Kapitel denken sich die Arbeitsgruppen eigene Schlussszenen aus. Sie haben eine Viertelstunde Zeit, um die Szene als kleines Theaterstück zu inszenieren. Theatermann Carles ist ganz in seinem Element. Unter großem Trara überfallen die Guten die Bösen, befreien das gefangene Opfer und verjagen die Bösewichte. Wenig Text, viel Geschrei, viel Gelächter und großer Applaus.
Regeln? Schuhe aus in der Scheune – und die wichtigste und einzige Regel, die nicht zu beugen ist: "Only English!" Nur wer anfängt, in Englisch zu denken, kann in kurzer Zeit echte Fortschritte beim Sprechen machen, meinen Liz und Tim. Sie achten darauf, dass sich keine nationalen Splittergruppen bilden, die dann doch in ihrer Sprache kommunizieren.
"Wir meditieren. Wer hat Lust, mitzumachen?" Tim geht durchs Haus und lädt die Schüler*innen ein. Marek, Student aus der Slowakei, winkt ab: "Meditation? Nichts für mich. Ich arbeite so lange an unserem Quiz weiter." Als Tim versichert, dass niemand Ärger wegen nicht gemachter Hausaufgaben bekommt, nehmen Mayela und Rebecca das Angebot einer Meditationspause dankbar an. Nach den vielen Aufgaben ist es eine gute Gelegenheit, das Erlebte in aller Ruhe an sich vorbeiziehen zu lassen. Doch nicht nur Meditation ist im Angebot. Mal steht Beachvolleyball auf dem Nachmittagsprogramm, mal Yoga. Bei schönem Wetter regt Tim einen Spaziergang um den See inklusive Badestopp an oder eine Wanderung auf den Hausberg, der sich hinter dem Cottage erhebt.
Statt sich im Schulzimmer auf ihre Debatte vorzubereiten, haben sich die Leugner*innen des Klimawandels nach dem Mittagessen zu einem Spaziergang auf diesen Aussichtsberg verabredet. Auch wenn kein Wörterbuch zur Hand ist und es manchmal am englischen Fachvokabular hapert, ist die Debatte laut und leidenschaftlich. Jeder Höhenmeter verbessert die Aussicht und gibt den Blick auf weiter entfernt liegende Seen frei. Ob es dem steilen Anstieg oder der friedlichen Landschaft des Lake District geschuldet ist – die Diskussion über den Klimawandel beruhigt sich und macht anderen Themen Platz.
Schule? Unterricht? Lernziele? Nach einer Woche in Nab Cottage haben die Schüler*innen das Gefühl, vieles gelernt zu haben – und so lange wie möglich hierbleiben zu wollen.