Streuobstwiesen, Schafherden und Hecken voller Vogelgezwitscher: Wer verstehen möchte, was ein Biosphärenreservat ist, sollte es zu Fuß oder mit dem Rad erkunden. Bei einer Wanderung durchs Biosphärenreservat Bliesgau hat Anderswo-Autorin Regine Gwinner viel darüber gelernt, wie Landschaft, Landwirtschaft und Naturschutz zusammenhängen. Ihr Reisebericht:
Trans-Bliesgau
„Wo wollen Sie denn hin mit dem großen Rucksack?“ Der Spaziergänger mit Hund bleibt breitbeinig vor mir stehen und erwartet offensichtlich eine gute Geschichte. Es gibt keine. Mein Ziel ist nicht Santiago de Compostella und ich bin auch noch keine fünf Wochen unterwegs. Von Blieskastel aus bin ich gerade mal sechs Kilometer gewandert. Heute Abend werde ich hoffentlich nicht am Waldrand, sondern in einem gemütlichen Gasthof übernachten. Aber mein Rucksack ist tatsächlich viel zu groß für diese Erkundungstour durch den Bliesgau, und da ich mich zufällig auf einem – wenn auch kurzen – Abschnitt des Jakobswegs befinde, sage ich: „Na ja, Sie wissen ja: Pilgern. Da weiß man nie...“ und gehe mit großem Rucksack und neu gewonnener Autorität an Mann und Hund vorbei Richtung Sonnenuntergang. Von einem knorzigen Birnbaum am Feldrain pflücke ich mir eine Birne (Pilger dürfen das!) und schlendere weiter, während die Sonne die Felder und Wiesen des Bliesgaus in goldenes Abendlicht taucht.
Was ist ein Biosphärenreservat?
Der Bliesgau liegt im Saarland direkt an der Grenze zu Frankreich. Seit über zehn Jahren ist die Region an der Blies Biosphärenreservat. 2009 wurde sie von der UNESCO als Modellregion für nachhaltige Entwicklung ausgewählt, um Konzepte und Lebensentwürfe für ein nachhaltiges Zusammenspiel von Mensch, Wirtschaft und Natur zu entwickeln. Wer durch den Bliesgau radelt oder wandert, sieht, wie Mensch und Natur hier zusammenspielen: Die Wege führen durch eine offene Kulturlandschaft. Der Großteil der Hänge ist von Acker- und Weideflächen bedeckt. Obstbäume und dicke Hecken begrenzen Wiesen und Felder. Hier gibt es keine großen Monokultur-Flächen, sondern viele kleinere Parzellen, auf denen alles gedeiht, was man zum Leben braucht.
„Fast alles“, sagt Manuela Hennrich, Chefin des Hubertushofs lachend. „Das Angebot an Wein hier ist begrenzt, und Kaffee gibt es natürlich auch nicht lokal. Solche Sachen kaufen wir über den Großhandel ein.“ Der Hubertushof in Würzbach, den Manuela Hennrich Anfang 2019 von ihren Eltern übernommen hat, ist ein Beispiel für die Kreislaufwirtschaft im Bliesgau. Bevor es auf der Speisekarte los geht mit den Gerichten, gibt eine Seite den Gästen den Überblick über die Partnerbetriebe, bei denen die Familie seit vielen Jahren einkauft: Mehl, Eier, Milchprodukte, Säfte, Fleisch, Pilze – alles direkt aus der Nachbarschaft. „Heute wird das immer so betont, als wäre es etwas ganz Besonderes“, sagt die junge Gastwirtin. „Für uns war es immer selbstverständlich, bei Unternehmen aus der Region einzukaufen. Wir kaufen bei denen, die feiern bei uns.“ Daher verzichtet der Hubertushof auch auf die sonst in der Gastronomie übliche Belieferungs-Logistik. „So bin ich viel näher dran an meinen Lieferant*innen“, erklärt Manuela Hennrich. „Ich kriege mit, wann die Spargelernte anfängt oder wenn einer ein Rind schlachtet. Dann können wir das direkt bei unserer Planung berücksichtigen.“ Und sie merkt, dass immer mehr Gäste schätzen, dass Wirtin und Küche einen persönlichen Bezug zu den Lieferbetrieben haben und genau wissen woher die Zutaten stammen. Die Nachfrage nach regionalen Produkten wächst. Das Biosphärenreservat mit seiner kleinräumigen Produktionsstruktur liegt da voll im Trend.
Ich lasse mich verwöhnen von dieser reichen Landschaft. Tagsüber beim Wandern pflücke ich mir immer wieder knackige rotbackige Äpfel, die intensiv schmecken. Im Windschatten einer Hecke sitze ich auf der Wiese, genieße die Herbstsonne, lese oder schaue den Rotmilanen zu, die hoch oben über den Wiesen kreisen. Abends freue ich mich über liebevoll zubereitete Gerichte – die erste Kürbissuppe in diesem Jahr, frische Salate und Eis aus der lokalen Eismanufaktur, natürlich hergestellt aus Bliesgauer Biomilch.
Eine eigene Bioland-Molkerei
Jahrelang musste Familie Wack ihre Bioland-Milch an eine Standard-Molkerei außerhalb des Saarlands liefern. Es gab im Saarland zwar mehrere Biomilchhöfe, aber keine Molkerei, die die Milch vor Ort zu Bioprodukten weiterverarbeitet hätte. So wurde die gute Biomilch erst lange durch die Gegend gefahren, dann mit konventioneller Milch gemischt und außerdem auch noch schlecht bezahlt.
Daher gründete Familie Wack 2005 zusammen mit ein paar anderen Biomilch-Betrieben in Ommersheim im Norden der Region die Bliesgau-Molkerei. Das Ziel: die Biomilch vor Ort nach traditionellen Verfahren zu verarbeiten und die Produkte in der Region zu vermarkten. Durch kurze Wege und direkte Vertriebskontakte blieb außerdem mehr Geld bei den Milchbauernhöfen.
Inzwischen ist die Molkerei ist ein wichtiger Akteur in der Biosphärenregion. Die Kühe sorgen durch das Beweiden dafür, dass das offene Landschaftsbild erhalten bleibt. Ohne Wiesen und Weiden würde sich hier der Wald ausbreiten. Außerdem zeigt die Molkerei, wie eine nachhaltige Wertschöpfung in der Region gelingen kann. Wenn ein Milchhof jetzt auf Bio umstellt, weiß er, dass es einen Abnehmer für die Produkte und fairer Preise gibt.
Nachhaltigkeit rechnet sich
„Es ist nicht leicht zu vermitteln, was ein Biosphärenreservat ist“, sagt Pia Schramm. „Viele denken bei Reservat an ein geschütztes Gebiet, in dem der Mensch nichts zu suchen hat.“ Aber genau genommen ist das Biosphärenreservat nichts anderes als ein betriebswirtschaftliches Großprojekt. Nur was sich rechnet, bleibt auf Dauer erhalten. Das gilt für die vielen Familienbetriebe, die kleinräumige Landwirtschaft und für den Biosphärenbus, der die sanfte Mobilität in der Region sicherstellt. Daher ist der Aspekt der Wirtschaftlichkeit – neben Ökologie und Sozialer Verantwortung – eine der drei tragenden Säulen der Nachhaltigkeit.
„Ich komme aus der freien Wirtschaft“, sagt Semsettin Ocak. „ Bei mir musste es immer bis drei Stellen hinter dem Komma stimmen.“ Bevor Ocak die Betriebsleitung des Wintringer Hof übernommen hat, hat der Lübecker bundesweit Restaurants vor der Insolvenz gerettet – wenn es noch etwas zu retten gab. Als man ihm den Job anbot, einen Landgasthof mit Restaurant und Gästezimmern auf einem von der Lebenshilfe betriebenen Inklusions-Hof aufzubauen, zweifelte er erst mal an den Erfolgsaussichten des Vorhabens. Einen Gasthof als einen weiteren Schritt zur Ver- und Aufwertung der eigenen Produkte in einen Bio-Hof einzugliedern? Einen Dienstleistungsbetrieb aufzubauen, in dem zum großen Teil Menschen mit Handicap arbeiten? „Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das überhaupt funktionieren sollte, geschweige denn wirtschaftlich“, erinnert sich Ocak. Nach vier Jahren läuft der Landgasthof grandios. Das Biorestaurant – übrigens lange das einzige im ganzen Saarland – hat sich überregional einen Ruf erarbeitet. Dank der wunderschön restaurierten historischen Kapelle auf dem Hofgelände ist der Inklusions-Betrieb ein heißer Tipp für Hochzeiten. Über 50 Paare geben sich jedes Jahr hier das Ja-Wort – oft mit Sektempfang, Essen und Party. „Wir setzen im Restaurant und bei den Veranstaltungen alles ein, was der Hof hergibt“, sagt Ocak – und das ist eine ganze Menge: Hühner, Rinder und Schweine gibt es hier, Obst und Gemüse, Kartoffeln und Getreide. Für Restaurant, Festsaal und Gästezimmer wurde eine alte Scheune umgebaut. Die Einrichtung ist bis ins letzte Detail aus ökologischen Materialien, viele davon stammen aus der Region.
Bevor ich weiterziehe, gehe ich noch einmal über den Hof. „Wie heißt du?“ und „Hier probier mal!“, heißt es überall, wo ich hinkomme. Ich nasche Cocktailtomaten und Schlangengurken und bekomme natürlich auch noch erntefrische Äpfel mit auf den Weg. Zum Abschied drückt mir Ocak eine Flasche Apfelsecco in die Hand – von dem Köstlichen, den ich am Abend zuvor schon getrunken habe. Gut, dass ich den großen Rucksack dabei habe und noch besser, dass ich damit nicht bis nach Santiago muss.