Im Kloster Gerode am Harz kann man sich erholen, allein sein oder Gemeinschaft genießen und ganz in Ruhe den aktuellen Lebensthemen nachspüren. Anderswo-Autorin Birte Evers hat den Schritt gewagt und sich für ein paar Tage hinter Klostermauern begeben:
Langsam gleiten die Flügel des großen Holztores in der hohen Steinmauer auseinander und geben den Blick frei auf eine grüne Oase. Nur das Rauschen des Windes in den Blättern der mächtigen Bäume und das fröhliche Gezwitscher der Vögel sind zu hören. Ich bleibe kurz stehen und genieße die für mich als Stadtmensch so ungewohnte Stille.
Als ich an diesem strahlend sonnigen Junimittag das erste Mal das herrschaftliche Anwesen des Klosters Gerode betrete, habe ich außer meinen materiellen Habseligkeiten noch eine große Sehnsucht nach Ruhe, Abgeschiedenheit und Auszeit vom Alltag im Gepäck.
Kaum bin ich durch die Klosterpforte ins Innere des denkmalgeschützten Gebäudes getreten, werde ich herzlich von Erika Schaller begrüßt. Sie leitet das Klosterbüro im Kloster Gerode und ist erste Anlaufstelle für die Gäste. „Hier duzen wir uns alle“, erklärt sie mir und fragt, ob das ein Problem für mich sei. Ich verneine und fühle mich sofort willkommen.
Jetzt heißt es innerlich umschalten vom durchgetakteten Berufs- und Familienalltag mit Termindruck und kraftraubendem Spagat zwischen Job, Kind und Haushalt auf Entschleunigung, Zeit haben, sich verwöhnen lassen, Körper und Seele etwas Gutes tun. Gut, dass das gesamte Klostergelände handyfreie Zone ist und dass es weder W-LAN noch einen Fernseher oder Telefon auf den Zimmern gibt. Alle, die – so wie ich – die Armbanduhr durch das Smartphone ersetzt haben, können sich einen Wecker ausleihen. „Nur zur Sicherheit“, denke ich und nehme mir einen mit aufs Zimmer. Damit ich nicht zu spät zu den Mahlzeiten komme. Aber eigentlich brauche ich ihn nicht – hier an diesem Ort, wo weder Stress noch Hektik zu Hause sind.
Aber nicht nur dieser freiwillige „Digital Detox“, sondern vor allem die herzliche Atmosphäre und das aufmerksame, freundliche 35-köpfige Mitarbeiterteam helfen mir, zur Ruhe zu kommen und den Alltag außerhalb der Klostermauer zurück zu lassen. Arbeit wird hier als Meditation verstanden. Das lernen alle Gäste spätestens, wenn sie einmal am Tag in der Seva-Küche gemeinsam Gemüse für die nächste Mahlzeit schnibbeln. Anfangs ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich mich beeile – sei es beim Abräumen der Tische oder beim Kartoffeln schälen. Ein liebevoller Hinweis der Küchenmitarbeiterin lässt mich innehalten und mein Tun mit Bedacht und Achtsamkeit fortsetzen.
Kloster mit moderner Spiritualität
Bei allen Tätigkeiten und Aktivitäten steht hier im „Kloster der neuen Zeit“ das bewusste Erleben des Augenblicks und die Freude daran im Vordergrund. „Nur mit dieser ungeteilten Aufmerksamkeit im Tun, im sogenannten Seva, können wir den Augenblick bewusst und mit Dankbarkeit genießen“, verrät mir Titus Götte, Verantwortlicher für IT, Technik und Marketing, bei einer der gemeinsamen Mahlzeiten.
Leistung tritt hier in den Hintergrund. Viel bedeutender ist es, auf den eigenen Körper zu hören, in sich hinein zu spüren und dabei herauszufinden: Was tut meiner Seele und meinem Körper gut? Was brauche ich gerade jetzt, um mich wohl zu fühlen? Wo sind meine mentalen und körperlichen Grenzen? Und das befreiende ist: Hier ist Zeit und Raum, das „Erspürte“ auch umzusetzen, statt es – wie so oft im Alltag – einfach zu übergehen.
Alle Gemeinschaftsaktivitäten hier im Kloster beginnen mit einer gemeinsamen Achtsamkeitsübung. Das erdet und hilft mir, mich auf diese eine Sache zu konzentrieren und das Gedankenkarussell in meinem Kopf zumindest vorübergehend zum Stillstand zu bringen. Als besonders wohltuend empfinde ich, dass zu Beginn der Mahlzeiten eine Weile geschwiegen wird. Dadurch kann ich jeden Bissen des köstlichen vegetarischen Bio-Essens ganz bewusst genießen.
Gesundheitsurlaub im Kloster
„Wir bieten einen Ort der Begegnung und des Friedens sein“, erklären mir Anke Clausen und Anna Impekoven, die beide schon seit Mitte der 90er Jahre mit dabei sind, als der gemeinnützige Verein „Weg der Mitte“ das ehemalige Benediktinerkloster übernommen und mit viel Engagement, Eigenleistung und feinem Gespür für Ästhetik und Denkmalschutz zum heutigen ganzheitlichen Gesundheitszentrum umgebaut hat. Insgesamt 70 Betten stehen jetzt im Klosterhauptgebäude und im Gästehaus für Besucher zur Verfügung.
„Bei uns sind alle willkommen“, erzählt Anna, deren Hauptaufgabe die Begleitung der Gäste ist, „unabhängig von ihrer religiösen Ausrichtung und der Art ihrer Spiritualität. Wir möchten, dass Menschen zu sich selbst finden, innere Achtsamkeit erlernen, ihre Mitte und inneren Frieden (wieder)finden. Hier können sie gestärkt werden, ihre Potenziale entdecken und entfalten lernen. Grundlage für unser Leben und unsere Arbeit hier ist der Einklang mit der Natur – sowohl mit der eigenen als auch mit der uns umgebenden“, fasst Anna die Philosophie dieses besonderen Ortes zusammen.
Entsprechend breit gefächert ist das Angebot. Es orientiert sich an den vier Säulen des von der Vereinsgründerin und Leiterin Dr. Daya Mullins Anfang der 1970er Jahre entwickelten ganzheitlichen Gesundheitssystems „Gesund leben - Ausbilden - Pflegen - Heilen“. So kann man hier unter anderem Entspannungstechniken erlernen, sich in Stressbewältigung, Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung schulen lassen, Yoga- und Meditationskurse besuchen oder an Fasten- und speziellen Entgiftungskuren teilnehmen. Außerdem werden verschiedene Ausbildungen in den Bereichen Gesundheit, ganzheitliche Medizin und Yoga angeboten.
Mitwohnen auf Zeit im Kloster
Die Klosterpforte steht aber auch all denen offen, die – so wie ich – einfach nur ein paar Tage der Alltagshektik entfliehen und zur Ruhe kommen möchten. Einzige Voraussetzung ist die Bereitschaft, sich für die Dauer des Aufenthaltes auf die Kunst des achtsamen Lebens einzulassen. Interessierte können im Rahmen der beiden Programme „Kloster auf Zeit“ und „Work & Study“ einige Tage in das Klosterleben eintauchen.
Die Teilnahme am Rahmenprogramm ist ohne Vorkenntnisse möglich. Wer mag, kann morgens vor dem Frühstück bei einer Stunde BenefitYoga® seine Körperwahrnehmung schulen und den Tag in einer abendlichen Meditation mit musikalischer Einstimmung in einem der wunderschön renovierten Seminarräume ausklingen lassen. Wem nach Austausch und Gemeinschaft zu Mute ist, nimmt an einer der moderierten Gesprächsgruppen teil. Die Gemeinschaftspraxis für Naturheilkunde und Körpertherapien bietet auf dem Klostergelände Massagen und andere Heilbehandlungen sowie Einzelberatungsgespräche an, die individuell zugebucht werden können.
Traditionelle Ausdrucksformen christlich-religiösen Klosterlebens, wie Gottesdienste, Stundengebete oder das Singen von Chorälen, werden hier jedoch nicht gelebt. Wer danach sucht, sollte sich in einem klassischen Ordenshaus einquartieren.
Zu Gast im Kloster
So vielfältig wie die Angebotspalette sind auch die Menschen, die mit mir zusammen hier zu Gast sind, und die Gründe, die sie hierher geführt haben: Sie reichen von Verarbeitung einer Trennung oder eines Todesfalls, über Burnoutprävention bis zum Wunsch nach persönlicher oder beruflicher Neuorientierung.
So treffe ich hier unter anderem zwei Lehrer, die hier regelmäßig während der Schulferien in der Ruhe neue Kraft für den Schulalltag schöpfen. Der selbstständige Ingenieur findet in der Spiritualität einen Ausgleich zu seiner technisch geprägten beruflichen Tätigkeit. Eine Mutter, die zusammen mit ihrer 18-jährigen Tochter zum ersten Mal hier ist, verrät mir: „Eigentlich wollten wir in ein „richtiges“ Kloster. Wir sind eher zufällig hier gelandet. Aber das ist jetzt genau der richtige Ort für uns.“ Zwei Freundinnen möchten einfach ein paar Tage ausspannen und mit dem E-Bike die Umgebung erkunden. Eine Dame mittleren Alters wurde von ihrer Familie mit den Worten „Ich glaube, du musst mal wieder ein paar Tage nach Gerode“ zum zweiten Mal hierher geschickt. Scheinbar hatte ihr erster Besuch bleibende Wirkung hinterlassen.
Ich erlebe bei allen eine große Offenheit, gegenseitige Annahme und Verständnis für Fragen und Probleme der Anderen. Sicher eine Folge der respektvollen und wertschätzenden Atmosphäre.
Wer allein hierher kommt, findet – so er oder sie es denn möchte – schnell Anschluss. Gelegenheiten für Begegnung und Austausch gibt es genug: Sei es am Tisch bei den gemeinsamen Mahlzeiten, bei den Vorbereitungen in der Seva-Küche, im Rahmen einer der moderierten Gesprächsrunden oder einfach bei einer Tasse Kaffee oder Tee im Klostercafé.
Mitarbeit im Klostergarten
Aufkommende Gedanken sortieren, Impulsen und Anregungen nachspüren, den Blick weiten und schweifen lassen... all das gelingt mir am besten im wunderschönen weitläufigen Klostergarten.
Gestaltete und naturbelassene Gartenbereiche gehen harmonisch ineinander über. Gemähte Wiesenpfade verbinden und erschließen die einzelnen Gartenräume. An besonders schönen Stellen laden Bänke zum Platz-nehmen und Da-sein ein.
Ich folge den Pfaden und entdecke verborgene Schätze: Ein Bachlauf schlängelt sich von der Paradiesquelle plätschernd durch das leicht abfallende Gelände und mündet in den ehemaligen Fischteich des Klosters. Ein Fischreiher fliegt auf. Enten dümpeln in Ufernähe. Ich lasse mich auf einer Bank nieder und schaue den dicken blauen Libellen zu, die über die in der Sonne glitzernde Wasseroberfläche schwirren.