Anderswo:Herr Prof. Zeiss, was bedeutet Nachhaltigkeit im Tourismus für Sie?
Zeiss: Wir müssen mit den Ressourcen, die uns heute zur Verfügung stehen, so umgehen, dass auch künftige Generationen diese Ressourcen zur Verfügung haben. Und das bedeutet im Tourismus hauptsächlich, dass wir mit fossiler Energie, Wasser und Land sehr vorsichtig sein müssen. Dazu kommt die soziale Komponente, also faire Arbeitsbedingungen und menschenrechtswürdiges Verhalten. Damit steht der Tourismus aber nicht allein da. Nachhaltig zu wirtschaften ist ein Imperativ für alle Branchen.
Anderswo: Warum sind nachhaltige Angebote im Tourismus dann immer noch ein Nischenprodukt?
Zeiss: Angebote entstehen durch Nachfrage. In meiner Zeit bei der TUI wurde 2012 zum Beispiel eine ganze Hotelkette auf Nachhaltigkeitsbedürfnisse ausgerichtet: Viverde Hotels. Aber das Produkt wurde nach wenigen Jahren wieder aufgegeben, weil es nicht genug nachgefragt wurde.
Aktuelle Erhebungen zeigen, dass das Interesse an nachhaltigen Reiseangeboten in den letzten Jahren stagniert – außer bei den Kurzreisen, wo es deutlich gestiegen ist. Wir haben aber immer noch eine hohe Diskrepanz zwischen dem Wunsch und der Wirklichkeit. Denn von den Menschen, die angeben, sich für nachhaltiges Reisen zu interessieren, setzen noch lange nicht alle das auch um. Das ist ein sogenannter Attitude-Behavior-Gap. Ich denke, jeder kennt diese Situationen. Man steht beispielsweise im Supermarkt vor dem Regal mit der Butter und sieht, dass die Bio-Butter zwei Euro mehr kostet, und in dem Moment denkt man, ach, das ist es mir nicht wert. Und so geht es auch mit den Urlaubsreisen. Der Verbraucher wird es auch nicht allein lösen können. Es ist ein Zusammenspiel zwischen Verbrauchern, den Unternehmen und der Politik gefragt.
Anderswo: Was muss die Politik tun?
Zeiss: Die Politik muss einheitliche Rahmenbedingungen für die Akteure schaffen – ein so genanntes Level-Playing-Field. Nehmen wir zum Beispiel das Thema CO2-Kompensation. Man könnte regulieren, dass alle Reisen bereits die Klimabelastung kompensieren. Aber wenn es nicht für alle gilt und sich ein Anbieter allein vorwagt - also die Kompensationskosten in seinen Reisepreis integriert - steht er am Markt natürlich mit teureren Produkten da. Also müsste so ein Verfahren für alle Anbieter verpflichtend sein.
Wenn ich mir etwas von der Politik wünschen könnte, dann, dass Kosten transparent dargestellt werden müssen. Zum Beispiel bei Flügen: Die tatsächlichen gesellschaftlichen Kosten von einer Tonne CO2 liegen laut Umweltbundesamt bei 809 Euro. Ein Flug von Frankfurt nach New York und zurück erzeugt 3,6 Tonnen CO2 pro Passagier - da wäre jedes Ticket gleich 2.900 Euro teurer. Das wäre der korrekte Preis – und dann würden sich viele Reisenden überlegen, ob sie einen Flug buchen.
Anderswo:Sie haben vorhin schon TUI angesprochen. Was machen denn die großen Unternehmen im Bereich Nachhaltigkeit?
Zeiss: Da ist viel in Bewegung. Zum einen müssen die Konzerne sowieso bestimmte Berichtspflichten erfüllen, zum Beispiel im Rahmen des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes, das ab 2024 für alle Unternehmen ab 1.000 Mitarbeitenden gilt. Und auch für Anleger am Kapitalmarkt spielen Nachhaltigkeitsstrategien eine immer wichtigere Rolle. Schon aus diesem Grund haben die großen und mittleren Reiseunternehmen inzwischen ganze Teams, die sich um Nachhaltigkeit kümmern. Allerdings wird man aus einer TUI oder einer DER Touristik nicht von heute auf morgen einen nachhaltigen Reiseveranstalter machen, insbesondere, da die Nachfrage wie angesprochen nicht groß genug ist.
Anderswo:Was denken Sie, wie sich der Tourismus in den nächsten Jahren verändern wird, insbesondere durch den Klimawandel?
Zeiss: Ich denke, wir werden eine Umstrukturierung des Marktes erleben, wie wir sie uns kaum vorstellen können. Wir haben diesen Sommer schon die extrem hohen Temperaturen im Mittelmeerraum gesehen, und das wird ja in Zukunft eher noch schlimmer werden. Darum erwarte ich, dass sehr viel mehr Touristen in Zukunft eher an die Nordsee und Ostsee, nach Skandinavien oder auch in die osteuropäischen Länder reisen werden, als ans Mittelmeer. Aber dafür muss natürlich erstmal die nötige Infrastruktur geschaffen werden, und das sehe ich im Moment noch nicht, dass das passiert. Diese Umstrukturierung des Tourismus-Sektors birgt natürlich auch Risiken für den Klima- und Umweltschutz. Neue Hotels und andere Infrastruktur wie Straßen verbrauchen natürlich jede Menge Ressourcen. Aber es gibt auch Chancen, das neue Angebot sozial- und umweltverträglich zu gestalten, indem man zum Beispiel alte, leerstehende Gebäude wie beispielsweise Bauernhöfe in strukturschwachen Gebieten zu Unterkünften umbaut.
Anderswo: Entwickelt sich der Tourismussektor insgesamt denn Ihrer Meinung nach in eine nachhaltigere Richtung?
Zeiss: Relativ gesehen gibt es natürlich gute Nachrichten. Flugzeuge verbrauchen pro Passagierkilometer weniger Kerosin als noch vor zehn Jahren. Ein Hotel verbraucht pro Übernachtungsgast weniger Strom aus fossilen Kraftstoffen als noch vor zehn Jahren. Aber gleichzeitig steigt natürlich, insbesondere weltweit gesehen, die Anzahl der Menschen, die verreisen. Und die Angebote werden auch immer größer. Die Büffets von heute sind etwas völlig anderes als die Büffets vor dreißig Jahren. Die Hotelzimmer in der Anfangszeit auf Mallorca waren ein Bett, ein Tisch und ein wackliger Stuhl, und das wars. Heute erwarten Gäste eine Badlandschaft mit Regendusche, ein bequemes Boxspringbett, bodentiefe Fenster und so weiter, das ist natürlich alles sehr ressourcenintensiv.
Und die Nachfrage reagiert auch weiterhin vor allem auf den Preis. Wenn die Flugpreise steigen, fliegen auch weniger Menschen. Fertig. Insofern müssen wir zurückkehren zu dem ersten Gebot, nämlich: Transparent zu machen, welche Kosten tatsächlich entstehen und diese einpreisen.
Anderswo: Sie forschen an der Hochschule Harz zum Thema nachhaltiger Tourismus. Woran arbeiten Sie, und was kann Forschung bewirken?
Zeiss: Mein Forschungsgebiet ist sehr breit aufgestellt. Ich habe zum Beispiel untersucht, welche Auswirkungen All-inclusive-Angebote auf Ökologie und lokale Bevölkerung haben. Oder wie Wetterbedingungen sich auf das Reklamationsverhalten von Ferienhausgästen auswirken. Dabei habe ich dieselbe Herausforderung wie alle anderen Forschungsgebiete aktuell. Es wird nicht mehr so wertgeschätzt, was die Wissenschaft herausfindet. Insofern können wir viel forschen, aber was dann daraus gemacht wird, ist eine andere Sache. Ich befürchte, dass der Einfluss wissenschaftlicher Publikationen in der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in den letzten Jahren gesunken ist.
Anderswo:Was lernen Studierende bei Ihnen im Studiengang?
Zeiss: Ich möchte ihnen mitgeben, dass fast alle Dinge im Tourismus zwei Seiten haben. Zum Beispiel im Bereich Artenschutz. Nehmen wir einen Nationalpark mit wilden Tieren in Afrika. Idealerweise würde man einen Bereich definieren, in dem die Natur sich ohne den Einfluss des Menschen entwickeln kann. Das ist aber natürlich eine Illusion, denn dann braucht es bspw. Ranger, die sicherstellen, dass keine Wilderer kommen. Und dann stellt sich auch sofort die Frage, wer diese Ranger bezahlen soll? Und wie bewegen sich die Touristen dort fort? Wie werden sie ernährt und untergebracht? All diese Aspekte haben vielleicht negative Auswirkungen auf den Nationalpark. Wir bewegen uns also immer in diesem Spannungsfeld aus positiven und negativen Effekten. Es geht letzendlich darum, die richtige Balance zu finden.
Anderswo: Und was hoffen Sie, was Ihre Studenten dann mit diesem Wissen machen?
Zeiss: Ich hoffe, dass sie verantwortungsvoller agieren, dass sie sich mehr Gedanken machen, und das dann auch in ihre Jobs und Unternehmen umsetzen.