Warum will da, wo es am schönsten ist, keiner mehr leben? In den Alpen, in einsamen Naturregionen, auf den schönsten Mittelmeerinseln verlassen Menschen ihre Dörfer, um in große Städte oder ferne Länder zu ziehen. Die Folge: Keiner kümmert sich um die leer stehenden Häuser. Gebäude, die eigentlich unter Denkmalschutz stehen müssten, verfallen. Orte mit jahrhundertealter Geschichte sterben aus. Es sei denn, jemand unternimmt etwas dagegen.
Der italienische Tourismusberater Giancarlo Dall’Ara wurde immer wieder mit der gleichen Frage konfrontiert: Wie kann man ein Dorf retten, das die Einwohner längst aufgegeben haben? Vor allem in der Region Friaul und in den Abruzzen, wo jede Generation mindestens ein schweres Erdbeben verkraften muss, sahen die Menschen keinen Sinn mehr darin, ihre Häuser nach jeder Katastrophe wiederaufzubauen.
Dall’Ara wollte nicht einfach so akzeptieren, dass die schönen Orte verfallen und sich ganze Regionen entvölkern. Er erdachte ein Konzept, das es für die Menschen vor Ort attraktiv machen sollte, die Schäden zu reparieren und in ihrem Ort zu bleiben. Seine Überlegung: Wenn bei der Instandsetzung gleichzeitig Ferienzimmer oder –appartements geschaffen würden, könnten sich die Hausbesitzer die Baukosten über Vermietung zurückholen.
Albergo diffuso: ein Konzept zur Regionalentwicklung
Dall’Ara dachte aber noch einen Schritt weiter: Um anspruchsvollen Gästen das Flair eines historischen Bergdorfes und gleichzeitig den Service eines Hotels zu bieten, schlug er vor, dass – übers ganze Dorf verteilt – zusätzlich zur Zimmervermietung auch die üblichen Hotelleistungen geboten werden. „Albergo Diffuso“ nannte er das Konzept – die über den Ort verteilte Herberge.
Das besondere Erlebnis für die Besucher: Bei einem „Albergo Diffuso“ werden sie ins Dorfleben integriert. Die Gassen des Dorfs sind der Hotelflur, der die einzelnen Unterkünfte verbindet, der Marktplatz ist Salon und Aufenthaltsraum, zum Frühstück trifft man sich in der lokalen Bäckerei, Abendessen wird in der kleinen Trattoria um die Ecke serviert. Einheimische und Gäste sitzen ganz selbstverständlich nebeneinander und essen die gleichen regionalen Gerichte. Post, Dorfladen, Busverbindung oder das lokale Schwimmbad kommen ebenfalls Einheimischen wie Gästen zugute.
Durch die Aufhebung der Trennung zwischen Einheimischen und Touristen rückt der Gast etwas näher heran ans ganz normale Dorfleben. Journalistin Uta Linnert hatte einen Fotokurs in der Toskana gebucht. Ihre Unterkunft: ein herrschaftliches historisches Gutshaus im Örtchen Mazzolla. Bei ihrer Anreise bekam sie vom Reiseveranstalter einen großen schmiedeeisernen Hausschlüssel ausgehändigt. Ihr Zimmer war passend zum Stil des Hauses mit alten Möbeln eingerichtet – so wie die Vorbesitzer es selbst genutzt hatten. Auch die anderen Kursteilnehmer wohnten in historischen Gebäuden über den Ort verstreut. „Wir lebten einfach mit – wie die Dorfbewohner“, beschreibt Linnert das Lebensgefühl.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer trafen sich in den alten Gassen von Mazzolla, in denen nur noch wenige Menschen dauerhaft leben. Abends kamen alle beim Essen im urig-toskanischen Restaurant zusammen, wo der Wirt für die Reisegruppe kochte.
Im Dorf zuhause
Dieses Gefühl des Zuhauseseins beschreiben viele Gäste, die ein Albergo Diffuso besucht haben. „Ganz anders als im Hotel“, sagt der Japaner Yusuke Wada, der längere Zeit in Raggiolo in der Ost-Toskana verbrachte. Ein besonderer Mehrwert für ihn war, dass er nicht nur das Dorfleben in Italien genoss, sondern dabei auch sein Heimatdorf in Japan wieder schätzen lernte, das er vor langer Zeit verlassen hatte.
Ohne Gäste würden die Gebäude in vielen kleinen Dörfern leer stehen und nach und nach verfallen. Die Idee, die Giancarlo Dall’Ara entwickelt hat, hat sich in Italien durchgesetzt. Heute ist Dall’Ara Präsident des Verbands der Alberghi Diffusi, zu dem über 100 Dörfer, Weiler und historische Ensembles gehören. Der Verband überwacht, dass die wichtigsten Prinzipien gewahrt bleiben: Die Bevölkerung selbst muss die Initiative ergreifen und investieren. Es soll nicht neu gebaut oder angebaut werden. Denn der besondere historische Stil des Ortes ist zentrales Qualitätsmerkmal eines Albergo Diffuso. Daher sind nur Umbauten im Bestand erlaubt. Und: Der Gast muss einen Ansprechpartner vor Ort haben und eine Möglichkeit, sich zu verpflegen – ein Konzept, für das Dall’Ara auch in Ländern wie Deutschland, der Schweiz oder Österreich viel Potenzial sieht.
Öko-Unterkünfte an der Küste Kalabriens
„Kein Albergo Diffuso ist wie das andere“, schwärmt Dall’Ara, „aber alle teilen eine große Leidenschaft für die Region, für das Dorf, das Borgo als Lebenseinheit und eine Liebe zu Gastfreundschaft und Authentizität.“ Das Albergo Diffuso EcoBelmonte ist ins idyllische Örtchen Belmonte an der Tyrrhenischen Küste in Kalabrien integriert. Das Projekt entstand, weil sich junge Menschen für ihren Ort engagieren wollten. Sie nahmen die Idee der Alberghi Diffusi auf, die Häuser im Ort durch Renovierung und Vermietung aufzuwerten. Jedes der zu mietenden Häuser erzählt die Geschichte seiner früheren Bewohner. Das Haus „U Canalu“, am Kanal, ist vor allem bei Hochzeitsreisenden beliebt. Eine Großmutter hatte es ihrer Enkelin geschenkt, damit sie – gegen den Widerstand der Familien – mit ihrem Liebsten zusammenleben konnte. Einige der Häuser sind in den Fels gehauene Höhlen – eine in der Region übliche Bauweise.
Vorbild für andere Länder
Gute Beispiele gibt es bereits: Der kleine Ort Schmilka in der Sächsischen Schweiz nahe Bad Schandau verfolgt äußert erfolgreich einen ähnlichen Ansatz – gleich noch kombiniert mit einem kompletten Bioangebot. In Schmilka können Gäste zwischen unterschiedlichen Unterkünften wählen und gemeinsam Angebote wie Bade- oder Caféhaus nutzen. Auch in der bayerischen Kleinstadt Mainbernheim gibt es Überlegungen, den 2.200-Einwohner-Ort als Albergo Diffuso touristisch wieder in Schwung zu bringen. Das fränkische Fachwerkstädtchen am Rande des Steigerwalds erhofft sich, mit dem für Deutschland ungewöhnlichen Konzept neue Gäste anzulocken.