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Mehrere Menschen laufen über eine Hängeseilbrücke im Berner Oberland zwischen zwei Bergen

Berner Oberland statt Himalaya: Die Schweizer Region bietet atemberaubende Berglandschaften und ist eine ideale Destination für Naturliebhaber*innen und Wanderfreund*innen. Eine weit entfernte Reise ist gar nicht notwendig, um spektakuläre Ziele zu erleben. / © swiss-imgage.ch/Robert Boesch

"Fliegen ist inhuman"

Ein Interview mit Hansruedi Müller von der Universität Bern

Das Center for Regional Economic Development (CRED) in Bern beobachtet seit über zehn Jahren das Verhalten der Reisenden und der Reiseindustrie. Dabei haben die Schweizer Forscher*innen immer Ökonomie und Nachhaltigkeit im Blick. Anderswo sprach mit dem ehemaligen Leiter des bis 2012 bestehenden Forschungsinstituts für Freizeit und Tourismus (FIF), Hansruedi Müller.

Anderswo: Wenige Veranstalter und Reisende denken überhaupt über die Folgen des Tourismus nach. Angesichts des weltweiten Reisebooms ist das verträgliche Reisen wohl doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein?

Hansruedi Müller: Als mein Vorgänger am Forschungsinstitut für Freizeit und Tourismus, Jost Krippendorf, in den 70ern die "Landschaftsfresser" schrieb, wurde er hart kritisiert: als Nestbeschmutzer, als einer, der den Schweizer Tourismus in den Ruin treiben will. Es dauerte fast 20 Jahre, bis die meisten Touristiker*innen einsahen, dass er recht hatte. Im Laufe der Jahre bewegte sich schon etwas.

Anderswo: Was will der Tourist eigentlich? Und findet er das am Markt?

Müller: Den Touristen gibt es nicht. Wir haben alle unterschiedliche Bedürfnisse und selbst der einzelne Mensch hat zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Wünsche. Während lange Zeit das "Weg von" der entscheidende Erklärungsansatz des Reisenden war, wird heute wieder eher das "Hin zu” aufgewertet. Andere Kulturen kennenlernen gilt als gängiges Reisemotiv, wobei das in zwei Wochen kaum einlösbar ist.

Anderswo: Der eigentliche Zweck ist also das Unterwegssein? Regiert uns doch ein Nomaden-Gen?

Müller: Schon möglich. Wir am FIF vertreten die These, dass die Menschen tief im Unterbewusstsein nach kultureller Identität suchen. Die klassischen familiären, religiösen oder beruflichen Rituale werden immer seltener. An ihre Stelle treten Freizeitrituale. Das alljährliche Stauritual zu Ferienbeginn gehört dazu. Rituale geben Sicherheit. Im Gegensatz zum Alltag sind die Ferien irrational und werden stark bildhaft wahrgenommen. So wird der rational geprägte Alltag ergänzt durch mythische Erfahrungen. Zudem erfährt man in den Ferien, dass man anders ist, einzigartig. Und wenn man nach der Fremderfahrung nach Hause zurückkommt, bemerkt man, wie toll die eigene Kultur ist.

Anderswo: Individualität findet man aber kaum im Reisebüro. Solange Tourist*innen Reisen von der Stange kaufen, bekommen sie massenhafte Pauschalprodukte.

Müller: In Deutschland denkt man beim Reisen sehr schnell an das Reisebüro und damit an die Pauschalreise, obwohl die Individualreise noch immer weit dominanter ist. Doch wenn viele zwar individuell, aber gleichzeitig und in die gleiche Destination fahren, entsteht auch bei Individualreisen Massentourismus. Auch durch individuell im Internet gebuchte Walking-Kurse oder Ganzkörper-Massagen entstehen Massenphänomene, doch haben alle das Gefühl, etwas Einzigartiges zu tun.

Anderswo: Solche Mengen, gepaart mit dem Trend zur Fluganreise, verschärfen das Klimaproblem. Sind Massentourismus und Nachhaltigkeit nicht ein Widerspruch in sich?

Müller: Rund 90 Prozent der Energie werden in der Tat bei An- und Abreise verbraucht. Die Art und Weise der Reise ist absolut entscheidend. Doch mit reinen Ideologien kommen wir nicht weiter. Wir können das Fliegen nicht verbieten. In breiten Kreisen ist man sich einig: Wir müssen den Energieverbrauch pro Urlaubseinheit verringern. Für die Transportenergiebilanz ist entscheidend, wie lange man bleibt. Persönlich beschränke ich mich seit vielen Jahren auf drei Flüge pro Jahr. Das ist für einen international tätigen Universitätsprofessor ziemlich einschränkend.

Anderswo: Was halten Sie von Initiativen wie atmosfair oder myclimate, die durch Zuzahlung auf das Flugticket anderswo in der Welt CO2-sparende Projekte fördern? Zahlen Sie freiwillig?

Müller: Ja, für Flugreisen zahle ich immer, obwohl es einer Art "Ablasshandel" gleichkommt. Glücklicherweise gibt es wenigstens diese Möglichkeit.

Anderswo: Diese Selbstbeschränkung legen sich aber nur die Wenigsten auf.

Müller: Ja, leider. Da braucht es zusätzliche Anreize und von Seiten der Reiseveranstalter auch Einsichten. Ich persönlich finde Fliegen unkomfortabel, ja inhuman. Man wird fremdbestimmt und deponiert beim Einchecken praktisch jede Freiheit. Aber zurück zu den Anreizen: Kerosin muss besteuert werden und Flüge müssen in den Kyoto-Prozess integriert werden.

Anderswo: Seit wann fordern Sie eigentlich die Kerosinbesteuerung?

Müller: Schon sehr lange. Ich war kürzlich zu einem Streitgespräch mit dem Manager einer Airline geladen. Der hat mich in dieser Frage elegant ausgehebelt. Er stimmte der Kerosinbesteuerung zu unter drei Bedingungen: Die Steuer muss weltweit gleich sein, sie muss zu einem gemeinsam vereinbarten Zeitpunkt eingeführt werden, und er wollte wissen, wie das Geld verteilt wird.

Anderswo: Damit hat er Ihnen den Schwarzen Peter zurückgegeben.

Müller: Ja, aber er hatte recht. Es ist unsere Aufgabe, mit Hilfe unserer politischen Kontakte die entsprechenden Entscheidungsprozesse in Gang zu setzen.

Anderswo: Nichts ist so stark wie ein Trend. Wer macht den eigentlich und welche sehen Sie für das Reisen der Zukunft?

Müller: Wer einen Trend macht, ist eine sehr schwierige Frage. Es gibt Trends, die aus realen Entwicklungen hervorgehen. Zum Beispiel wird die Überalterung der Gesellschaft massive Auswirkungen auf unser Reiseverhalten haben. Es gibt auch gemachte Trends, entweder durch die zahlreichen Trendforscher, durch innovative Wortschöpfungen und Wertsetzungen oder aber auch durch echte Trendsetter, also große Marktplayer, die Präferenzen beeinflussen können.

Anderswo: Das macht den selbsternannten Trendsetter zum Wellenreiter?

Müller: Und was das Ganze verkompliziert: Jeder Trend trägt den Keim seines Gegentrends in sich. Inidividualismus ist sicher ein Trend. Aber der Gegentrend heißt "crowding". In diesen Gegentrends liegen Chancen. Zu der sinnentleerten Spaß-Gesellschaft gibt es den Gegentrend zu "mehr Sinn". Hier liegt ein weites Betätigungsfeld für Anderswo.

Anderswo: In welchen Trend lohnt es sich zu investieren?

Müller: Vorwärts im europäischen Tourismus heißt Nähe. Auch damit liegt Anderswo im Trend. Fliegen ist anstrengend, und je reiseerfahrener und älter die Gesellschaft wird, desto offensichtlicher wird das.

Anderswo: Also erledigt sich das Klimaproblem irgendwann von allein, weil alle in der Nähe urlauben?

Müller: Diese Fernreisezurückhaltung gilt natürlich nicht für die Chinesen und Inder. Die haben einen gewaltigen Nachholbedarf, was Fernreisen angeht.

Anderswo: Und wenn sich eine Milliarde Menschen in Bewegung setzt, ist es eigentlich egal, was wir hier tun.

Müller: Vorsicht vor Fatalismus. Der Klimawandel ist eine große Aufgabe. Aber ich bin ein zuversichtlicher Mensch. Viele unter uns überlegen, wie wir für den Planeten und für nachfolgende Generationen verträglicher werden. So gesehen, liegt Ihre Zeitschrift mitten in einem Zukunftsthema.

Michael Adler

Weitere Informationen

Universität Bern, Forschungsinstitut für Freizeit und Tourismus,
Schanzeneckstrasse 1, 3001 Bern
Tel.: +41 31 6313711