Rot, lila und tiefblau schimmert der Abendhimmel über dem See. Wie ein Scherenschnitt zeichnet sich das Schilf am Strandufer vor dem Wasser ab, in dem sich die himmlische Farbpalette spiegelt. Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus, so schön ist das – selbst die Kinder sind ganz still.
Nach einem langen Tag, der von Schule und Homeoffice, Asphalt, Sirenengeheul und der etwa anderthalbstündigen Anfahrt mit Bus und Bahn geprägt war, stehen wir nun am Groß Väter See und atmen tief durch. Endlich angekommen! Die Luft duftet nach Bäumen und Frische, der Sand prickelt auf den nackten Füßen, unsere Alltagshektik weicht und macht wie selbstverständlich der Ruhe Platz.
Auszeit in der Natur
Die Uckermark ist das Land der Seen und der Wälder, und es ist sicher nicht übertrieben, sie zu einer der schönsten Naturlandschaften Deutschlands zu zählen. Tausende Kilometer kann man hier radeln, wandern oder mit dem Boot umherfahren. Dazu kommen urige Dörfchen und malerische Städtchen, Schlösser, Gutshäuser und Klosterruinen, in denen jede Menge Kultur dargeboten wird – kein Wunder, dass die Region ganz besonders, aber nicht nur bei Berliner*innen so beliebt ist. Wir allerdings gehören zu den Uckermark-Neulingen, und da wir nur für zwei Tage, aber mit drei Kindern unterwegs sind, haben wir martas Gästehäuser Groß Väter See gewählt. Das ist eine besonders für Familien und Gruppen einladende Adresse, wo es nicht nur ums Übernachten und gemeinsame Essen, sondern vor allem um das Erkunden der Natur geht.
Und tatsächlich, nur einen Tannenzapfen-Wurf von unserem Ferienhaus entfernt geht es am nächsten Morgen mit der Waldolympiade los. Hier wird es gleich sportlich. An der Weitsprung-Station nehmen die Kinder Anlauf und hüpfen um die Wette, um sich anhand der Markierungen mit Erdkröte, Frosch, Waschbär, Hase oder Fuchs zu vergleichen. Mit Volldampf preschen sie dann weiter, um an verschiedene Stationen zu klettern, zu spielen, zu schnuppern und buchstäblich in den Wald eintauchen. Wir genießen es, dabei ganz sorgenfrei hinter dem Nachwuchs herzustromern – erfreulicherweise hindert ein Zaun um das Areal die Kleinen daran, in den dunklen Weiten des Waldes abhandenzukommen.
Ziegen mit exotischen Namen
Eine Station fordert dazu auf, still zu sein. Gebannt lauschen wir dem Waldkonzert, das Wind, Vögel und Blätter gemeinsam veranstalten, während die Sonne durch die Bäume hindurch Lichtflecken aufs Moos wirft. Ein magischer Moment, der allerdings durch unseren Dreijährigen recht schnell abgekürzt wird. Weiter geht die Abenteuertour, bis wir schließlich bei den Ziegen landen, und diese füttern.
Während die Kinder die Tiere im Stall besuchen, lesen wir auf einem Schild die biblischen Namen der beiden jüngsten Ziegen: Delali heißt übersetzt „Gott ist hier“, Elinam bedeutet „Gott ist in mir“. Solch exotische Namen hätten wir hier nicht unbedingt erwartet. Dann fällt uns ein, dass die Gästehäuser eine Einrichtung der Berliner Stadtmission ist, in der viel Wert auf ein christliches, zumindest aber freundliches Miteinander gelegt wird. Auch wenn wir schon länger nicht mehr in die Bibel geguckt haben – uns gefallen die Gesänge, die von einer Gemeindegruppe herüberschallen ebenso wie die zum Areal gehörende Kapelle, die unsere Kinder als „kleinste Kirche der Welt“ betiteln. Dass das Essen in der Kantine meist vegetarisch und bio ist, der Kaffee aus fairem Handel und der Honig von den eigenen Bienenstöcken stammt, passt da gut ins Konzept.
Ein, zwei große Teller Nudeln braucht es mittags tatsächlich, um unsere Energiespeicher aufzufüllen, danach gönnen wir uns eine Pause im Freien. Dabei stellen wir fest, dass das Schnitzen von Haselstecken zu den wohl entspannendsten Tätigkeiten überhaupt gehört. Während wir die Äste von ihrer Rinde befreien und uns zaghaft an ersten Mustern versuchen, steigt ein frühlingsfrischer, nach Gurke erinnernder Duft auf. Der Kleinste schläft im Kinderwagen, unsere Handys schlummern unbeachtet in den Tiefen des Rucksacks und wir fühlen uns ziemlich eins mit dieser Welt.
Spiel und Spaß
Etwas Aktion darf es aber doch noch sein an diesem Tag – es lockt das nahegelegene Moor. „Was ist denn Moor?“, fragt die Sechsjährige, und die große Schwester antwortet prompt: „Ein gefährlicher Schlamm“. Also geht es nochmal los, von den Gästehäusern führt ein etwa zweieinhalb Kilometer langer Weg direkt zum Moor. Und wieder wartet nicht nur das Ziel, sondern schon unterwegs vielerlei Unerwartetes. Da müssen glänzende Käfer, sonderbar aussehende Pilze und flauschige Moose inspiziert werden.
Umgefallene Baumstämme versperren den Weg und fordern zum Klettern auf. Und plötzlich stehen wir vor einer großen Suhle. Im nachtschwarzen Matsch der Wildschwein-Badewanne sind sogar noch Hufspuren zu entdecken. Sofort heißt es: Schuhe aus, hinein in den Dreck! Das Vergnügen ist grenzenlos, begeistert stapfen die Kinder herum, während ihre Schritte die absurdesten Geräusche abgeben. Wir begrüßen diese intensive Begegnung mit der Natur, und hoffen doch insgeheim, dass niemand ausrutscht.
Mehr Moor
Nun sind es nur noch ein paar Schritte bis zum echten Moor – das sich schon auf den ersten Blick als faszinierender Lebensraum zeigt. Da wachsen keine Bäume, dafür eine Vielzahl anderer Pflanzen, deren Namen wir natürlich nicht kennen – gut, dass wir Bestimmungsbücher mit im Rucksack haben. Der Boden federt eigenartig nach, und bei jedem Schritt dringt Wasser an die Oberfläche. Es liegt etwas Geheimnisvolles über diesem Gebiet und eine große Stille über der Uckermark. Dass wir wenig später ein großes rostiges Kutsch-Rad im Gebüsch entdecken, erhöht die Spannung noch, und regt viele Fragen an. Wie kam denn eine Kutsche in diesen dichten Wald? Wie lange liegt das Rad hier wohl schon, und vor allem – wo ist bloß der oder die Kutscher*in geblieben?
Zurück bei den Gästehäusern gibt es nur noch ein Ziel: den See! Nun darf noch einmal ausgiebig im Wasser geplantscht, am Wasserspielplatz gearbeitet und von der schwimmenden Plattform gehüpft werden. Dass dabei die letzten hartnäckigen Spuren der Wildschweinsuhle abgehen, ist schon mal gut. Tausendmal wichtiger ist aber das Glück, das wir als Familie gemeinsam spüren. Und ganz schnell sind wir uns einig: So eine kleine Alltagsflucht sollten wir wirklich öfter machen. Und gerne darf es auch beim nächsten Mal wieder die Uckermark sein.
von Judith Hyams