"Luigi! Sono tedeschi“, ruft der kräftige Mann am Tresen der Woodstock-Bar in San Biagio Platini, als ich versuche, in schlechtem Italienisch Kaffee und Sandwiches zu bestellen. Luigi rutscht von seinem Barhocker vor der Tür und kommt zum Dolmetschen. Die Panini-Auswahl ist beeindruckend. Der tätowierte Kneipenwirt ebenso. Luigi spricht Deutsch – wie so viele Männer, denen wir in den Bergdörfern Siziliens begegnen. Sie erzählen von ihren Jahren in Stuttgart, Reutlingen oder Bochum, von der Arbeit in der Autoindustrie oder auf Baustellen, von den Kindern, die dort geblieben sind. Die meisten waren in den 70er oder 80er Jahren in Deutschland und haben sich von ihrer bescheidenen deutschen Rente etwas aufgebaut in der alten Heimat. Sie freuen sich über die Reisenden aus „Germania“ und bauen nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell Brücken zwischen den Einheimischen und den Radtouristen. Gastfreundschaft statt Verschlossenheit, Sicherheit statt Kriminalität – mit jeder Etappe dieser Tour lassen wir ein paar Vorurteile zurück.
Luigi erklärt, warum die ganze Innenstadt von San Biagio mit aufwendigen Schilfrohrkonstruktionen geschmückt ist. Ein ganzer Arkadengang mit großen Toren, Türmen und kunstvoll gefertigten Leuchtern zieht sich durch die Hauptstraße. Ein alter Osterbrauch, an dem jedes Jahr Hunderte Menschen über viele Monate mitarbeiten. Im Juni geht die ganze Pracht in einem großen Feuer in Flammen auf – damit nächstes Jahr etwas Neues entstehen kann.
Ein Königreich für einen Esel
Hungrig fallen wir über die üppig belegten Panini her. Von San Biagio aus ist das exponiert gelegene Country-Hotel Pigna d’Oro, in dem wir die vergangene Nacht verbracht haben, noch gut zu sehen. Der Weg vom Hotel in die Woodstock-Bar war eine echte Herausforderung. „Wir hätten hier sowieso hoch gemusst“, sagte der Begleiter am Vortag, als wir das auf luftigen 1000 Höhenmetern gelegene Hotel endlich erreicht haben. Die Straße von Santo Stefano hinauf auf den Bergrücken, auf dem das Landhotel residiert, ist kehrenreich und steil, aber sehr gut ausgebaut. Zu denken gibt das Schneeketten-Warnschild in der Hotelauffahrt. Der Rundumblick vom Balkon über das ganze Umland bis hin zur Südküste lässt die Anstrengung vergessen, und der Begleiter tröstet: „Die Höhenmeter müssen wir morgen nicht mehr fahren. Da geht es dann auf autofreien Nebenstraßen nur noch bergab.“
Bergab ist richtig, autofrei auch. Denn leider endet 200 Meter hinter dem Hotel die befestigte Straße. Zwar führen in alle Richtungen kleine Schotterstraßen weiter – aber welche führt ans Meer, Richtung Agrigento? „Etwas kompliziert“, sagt der nette Arbeiter im Pickup, der die Windkraftanlage auf dem gegenüberliegenden Berg wartet: „Immer bergab und immer rechts halten, capisci?“ Die Straßenqualität nimmt rapide ab. Ein Königreich für ein Mountainbike – oder wenigstens einen Esel. An Fahren ist nicht zu denken. Also schieben wir die Räder bergab über Sandpisten, ausgewaschene Schotterstraßen und zugewachsene Feldwege. Anfangs steht noch hin und wieder ein Pickup am Wegesrand, der uns signalisiert, dass es sich durchaus um Straßen handelt und wir uns nicht so anstellen sollen. Dann nur noch einzelne Rostlauben, die so wenig fahrtauglich sind wie die Straße. Schließlich nur noch ein Pferd und ein Esel.
Um uns herum erstrecken sich die endlosen und einander erschreckend ähnlichen Berge und Täler der Kornkammer Siziliens. Über allem thront – immer gut in Sicht – das Pigna d’Oro-Hotel, das uns beeindruckend deutlich macht, wie wenig weit wir beim Bergabschieben gekommen sind.
Da Umkehren keine Option ist, orientieren wir uns an verblichenen Plastikbändern mit KTM-Logo, die in unregelmäßigen Abständen an Büsche oder Weidezäune geknüpft sind und vielleicht eine Motocross-Strecke markiert haben, die irgendwann einmal irgendwohin geführt hat. Nach einem endlos erscheinenden Vormittag stoßen wir endlich auf ein kleines Zementwerk mit bestens ausgebauter Zubringerstraße, die uns – leider schon wieder bergauf – zur Strata Provinciale nach San Biagio Platani führt.
100 Arten des Hupens
Bleiben noch 60 bergige Kilometer bis zur Südküste. Heute machen wir keine Experimente mit autoarmen Nebenstraßen mehr. Wir bleiben auf der Strata Provinciale, die uns im sanften Auf und Ab des Geländes zielsicher gen Süden führt. Immer wieder bleiben wir stehen: Goldene Getreidefelder, tief eingeschnittene grüne Täler, malerische Bergdörfer zwischen schroffen Felsen, roter Mohn und bunt blühende Orchideen am Straßenrand – mitten im Herzen Siziliens grünt und blüht es wie im Allgäu.
Je näher wir der Küstenstadt Agrigento kommen, umso dichter wird der Verkehr. Vor allem in den Städten, die wir kreuzen, erfordert das Radfahren viel Selbstbewusstsein und den Abschied vom deutschen Verkehrsregeldenken. Rechts vor links ist spätestens dann ausgesetzt, wenn ein Reiseradler kommt. Da halten die sizilianischen Autofahrer doch lieber an – meist aus Rücksicht, manchmal vor Überraschung. Denn während es entlang der Nordküste und rund um die touristischen Hotspots ab und zu Radfahrer gibt, ist das Fahrrad im Inselinneren die absolute Ausnahme.
Fast jeder Auto-, Bus- und Lkw-Fahrer hupt, wenn er einen Radfahrer sieht – in der Regel eine freundliche Art der Kontaktaufnahme. Das aggressive „Aus der Bahn!“-Hupen ertönt eher selten. Ab und an, gerne am Berg, hört man auch das freche Mehrfachhupen, bei dem sich im Vorbeifahren der Beifahrer aus dem Fenster lehnt und ein aufmunterndes „Avanti, bionda!“ ruft.
Kurz bevor wir Agrigento erreichen, öffnet sich die Landschaft und gibt den ersten Blick auf die Küste frei. Unvermittelt tauchen direkt neben einem großen Kreisverkehr massive Tempelsäulen auf. Ja, wir sind auch wegen des „Tals der Tempel“ hier. Aber so direkt am Kreisverkehr? Als Radfahrer kann man da schon mal stehen bleiben und ein Foto machen. Bald werden es immer mehr Tempel und Ruinen, sodass wir doch erst unsere Unterkunft suchen und uns den Besuch des als UNESCO-Weltkulturerbe registrierten „Tals der Tempel“ für den kommenden Tag aufheben.
Der Weg zurück an die Nordküste führt uns noch tiefer hinein in die sizilianische Natur und konfrontiert uns nun doch mit den Vorurteilen, die wir am Anfang der Reise hatten. Von der Küstenstadt Licata aus folgen wir einer alten Verbindungsstraße ins Inland. Hier ist kaum ein Auto unterwegs. Zwischen brachliegenden Artischocken-Feldern zieht sich das Sträßchen hinauf in die Berge. Auffällig verkehrsarm ist die aufwendig gebaute Schnellstraße, die auf massiven Betonstelzen ins Tal hineingezwungen wurde. Später verstehen wir warum: Der milliardenteure Straßengigant ist nicht benutzbar, weil auf halber Strecke eine der Betonstelzen eingeknickt ist. Also nutzen die Anwohner einfach wieder die alte Straße. Die ist zwar eigentlich gesperrt, weil die Brücken marode sind und ein Erdrutsch eine ganze Kurve weggerissen hat. Aber was will man machen, wenn das Straßenbaubudget in die unbrauchbare Hochstraße gesteckt wurde oder – so vermuten wir – direkt an die Mafia geflossen ist? Man umfährt die Gefahrenstellen auf steilen Lehmpisten. Das Eherpaar im Fiat 500 kanns und auch der Betonlaster. Dann schaffen wir das mit den Rädern auch. Gut, dass es hier nicht so oft regnet.
Sizilien und die Mafia
Am 18. Mai bewundern wir rund um Corleone die vielen Kleinbauern, die ihre Felder, Wein- und Olivenhaine bebauen, obwohl damit sicher keine Reichtümer zu erwirtschaften sind, und sehen der Sonne zu, die hinter endlosen Hügelketten verschwindet. Am gleichen Tag wird 100 Kilometer weiter östlich der Präsident des Nationalparks Nebrodi von Mafia-Killern attackiert. Giuseppe Antoci überlebt den Angriff nur, weil seine Polizeieskorte das Feuer eröffnet und die Angreifer in die Flucht schlägt. Hinter dem Attentat steckt die Cosa Nostra, der Giuseppe Antoci seit vielen Jahren ein Dorn im Auge ist. Lange hat die örtliche Mafia unbehindert die EU-Förderung abgegriffen, die für die Landwirte im Nationalpark bestimmt ist. Antoci versucht, das zu verhindern, damit die EU-Gelder die Landwirte und Tourismusbetriebe erreicht und eine nachhaltige Entwicklung in der Region in Gang kommt.
Das alte Landgut Baglio San Pietro in Nicosia am Rande des Nebrodi-Nationalparks ist ein Beispiel dafür, wie diese nachhaltige Entwicklung aussehen kann. Harmlos steht der Wegweiser an der Straße: Baglio San Pietro, 400 Meter. Die Abzweigung, auf die er verweist, führt steil bergauf – sehr steil. Nicht nur die Städte im Inselinneren von Sizilien liegen gerne ganz oben auf der Bergspitze. Die schönen Landhotels mit dem besten Ausblick finden sich ebenfalls oft sehr hoch am Berg. Der historische Gebäudekomplex wurde liebevoll restauriert und für Gäste ausgebaut. Das hauseigene Restaurant verbindet traditionelle sizilianische Küche mit modernen Rezepten und stilvoller Inszenierung. Der Küchenchef verwendet nur frische Produkte aus der Umgebung. Die großen Naturschutzgebiete Madonie und Nebrodi, auf die man vom Restaurant aus blickt, sind der Kontext, in den sich das Landhaus mit seinem Angebot integrieren möchte.
Einmal duschen und Beine hochlegen. Der Aperitif am Pool mit Panoramablick versöhnt mit der anstrengenden Auffahrt. Für das Abendessen im stylischen Restaurant kommen auch die Einheimischen den steilen Berg herauf. Die große Antipasti-Platte mit regionalen Produkten und Gerichten ist ein guter Anfang: Zwiebelgemüse, Birnenpüree, Oliven, Schinken, Salami, Käse, würziger Honig und die köstliche Auberginen-Caponata, die auf keinem Antipastiteller in Sizilien fehlt. Dazu frisches Brot aus dem Pizzaofen. Auf der Weinkarte finden wir alle Anbaugebiete, die wir auf unserer Tour gestreift haben. Wir fragen nach einem Weißwein, nicht süß, aber fruchtig. Der Kellner verschwindet wortlos und bringt eine unscheinbare Flasche aus der Küche: Empfehlung des Küchenchefs. Der Wein, der von einem Weingut aus dem Südwesten Siziliens stammt, schimmert im Glas wie pures Gold – wie das Abendlicht im Tal der Tempel, wie die Oper von Palermo bei Nacht, wie der Sonnenuntergang über dem Hügelland von Corleone.