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Schweiz: Einfach die Alpen hoch

Mit Elektrobikes in den Schweizer Alpen unterwegs

Mountainbiker mögen sie belächeln: Doch Flachländer schaffen mit Elektro-Bikes scheinbar unmögliche Bergtouren.

An einer Baustelle in einem winzigen Dorf irgendwo in den Hügeln zwischen Thun und Schwarzenburg ist plötzlich Schluss. Ein vier Meter hoher Stapel grauer Abwasserrohre versperrt hinter einer Kurve den Radweg. Einer der sechs Männer, die an der Baustelle in Konstruktionspläne vertieft sind, zeigt eine steile Steigung hoch. "Da gehts lang. Gleich wieder rechts, ist nur ein kleines Stück", sagt der etwa 40-Jährige mit dunklen Locken, als ich mein Gesicht verziehe. Derweil hat sein Kollege um die 20 unsere Fortbewegungsmittel entdeckt und verdreht abschätzig lachend die Augen. "Ach, mit Elektrovelos!", ruft er. "Hier muss man doch mit echten Velos fahren!" Der Lockige ergänzt: "Ah, Flyer! Die schaffen das doch von selbst den Berg hoch." "Darauf warte ich noch", erwidert mein Begleiter. Mitleidig schauen die Arbeiter zu, wie wir den Berg hochstrampeln. Ich sehe es, als ich mich noch einmal umdrehe und trotzig rufe: "Ja, ja, wir sind aus dem Flachland!" Gelächter schallt uns hinterher. Na großartig. Wir fahren seit dem Morgen ohnehin schon mit einer gewissen Scham durch das hügelige Alpenvorland.

Es ist Tag 1 unserer sechstätigen Tour mit Pedelecs der Schweizer Firma Flyer über die gut ausgebauten und perfekt beschilderten Routen des landesweiten Radwegenetzes Veloland Schweiz. Wir fahren mit elektrischer Tretunterstützung. Wenn ich in die Pedale trete, gibt mir ein kleiner Motor 50, 100 oder 150 Prozent meiner eigenen Kraft dazu. Es fühlt sich an wie früher, als mein Vater mich auf Radtouren mit der Hand anschubste, damit es schneller voranging.

Radtouristen mit Akkus und Motor – darüber können echte Mountainbiker und Rennradler nur milde lächeln. "Ça va bien, hein", sagt eine Frau aus einer Gruppe von Mountainbikerinnen, die nach einem steilen Anstieg kurz rasten. "Oui, ça va bien", antworte ich entschuldigend im Vorbeifahren. Als die Gruppe uns wenig später überholt, da wir ebenfalls eine Pause einlegen, ruft die Frau triumphierend: "Aha!" Kurz vor der mittelalterlichen Stadt Fribourg, unserem Etappenziel direkt hinter dem Röstigraben, schießt eine muskulöse Rennradlerin um die 50 an uns vorbei und ruft uns auf Französisch zu: "So wie ich müsst ihr reisen, das ist viel besser!" Alles klar, wir haben verstanden.

Dabei ist die Route, die der Reiseveranstalter SwissTrails für uns ausgearbeitet hat, selbst mit Pedelecs nicht immer ein schweißfreies Vergnügen. "Sie müssen schon noch selbst treten", bestätigt Ruedi Jaisli, Geschäftsführer von SwissTrails. "Wer völlig untrainiert ist, kommt auch mit dem Elektrovelo die Berge nicht hoch." Zudem wiegen die Räder mit der Nabenschaltung, dem Akku und der Ersatzbatterie, die in den Bergen auf jeden Fall nötig ist, mehr als 30 Kilo. Schieben und Tragen sind mühsam.

Das Rundum-sorglos-Paket

Immerhin müssen wir nicht unser gesamtes Gepäck transportieren. Wir haben das Rundum-sorglos-Paket gebucht: Der Veranstalter bringt unsere Rucksäcke per Kurier von Hotel zu Hotel. Die Übernachtungsorte sind uns ebenfalls vorbestimmt. Die Räder hat ein freundlicher SwissTrails-Mitarbeiter in unser Hotel im Startort Thun gebracht. Am letzten Etappenziel in Grindelwald werden sie wieder abgeholt. Das Kartenmaterial liefert SwissTrails ebenfalls, und auch das Ladegerät reist mit, damit wir unsere Akkus abends in der Unterkunft selbst aufladen können.

Bei so viel Komfort boomt die Flyermiete, sagt jedenfalls Ruedi Jaisli. Die Pedelecs seien geradezu "touristisch genial." Sie erfüllten sogar eine soziale Funktion als Streitvermeider. "Der Flyer ist ein tolles Rad für Paare, die auf dem Velo nicht gleich schnell unterwegs sind. Eine Radtour kann nämlich ganz schön anstrengend sein, wenn der eine ständig warten muss und die andere nicht hinterherkommt. Der Flyer gleicht diese Unterschiede aus", erklärt der SwissTrails-Chef. "Außerdem führt er Menschen wieder ans Radfahren heran, die denken, sie könnten das gar nicht mehr."

Da hätten mein Begleiter und ich mit unseren 42 und 30 Jahren vielleicht doch aufs Mountainbike steigen sollen. Für die Hoteliers sind wir offensichtlich so etwas wie Exoten. "Sie sind die Ersten, die mit einem E-Velo bei mir ankommen", sagt Jörg Moser, Besitzer des Hotels Simmental im 1400-Einwohner-Dorf Boltigen im Berner Oberland. Der Anfang 50-Jährige mit den freundlichen braunen Augen und dem verschmitzten Lächeln hat zwar schon von den Flyern gehört, aber die Radtouristen, die bei ihm übernachten, "vor allem Ältere ab 50, 60", haben alle ein "echtes Velo" dabei. "Mal schauen, wie sich das mit dem Flyer-Tourismus entwickelt, soll ja im Kommen sein."

Ich bin dankbar, der Begleiter mault

Nicht einmal die Senioren reisen mit dem E-Bike? Egal, irgendwie habe ich den Miniantrieb in den vergangenen Tagen schätzen gelernt, in meine Scham mischt sich Dankbarkeit. Vor allem dann, wenn ich entspannt lächelnd einen Bergradler überhole, der mit kirschfarbenem Gesicht die Steigung hinaufschnauft. Während der nur vor sich auf den Weg schaut, drehe ich meinen Kopf nach rechts, nach links und genieße die Aussicht auf schneebedeckte Bergkuppen und Wasserfälle.

Mit genau diesem Argument vermarktet der Pedelec-Produzent Biketec/Flyer seine Räder touristisch. "Unsere Zielgruppe sind Sommergäste, die genussvoll radeln und die Landschaft entdecken wollen", erklärt Simon Brülisauer, Leiter Marketing und Tourismus bei Flyer, "weniger die sportlich ambitionierten Radler." Wichtig ist ihm, dass die Verleiher E-Velo-Neulinge vor ihrer ersten Fahrt kurz in die Besonderheiten des Pedelecs eingeweihen. "Sie müssen wissen, dass Sie in kleineren Gängen verhältnismäßig weniger Tretunterstützung bekommen, die greift nur bis 70 Pedalumdrehungen in der Minute", sagt Brülisauer. Also lieber langsamer treten in einem höheren Gang, auch bergauf. "Wenn Sie das berücksichtigen, kommen Sie mit dem Flyer jede Steigung hoch."

Und das ist auch gut so. Denn am letzten Tag gilt es, knapp 1700 Höhenmeter auf 30 Kilometern zu bewältigen: hinauf zur Großen Scheidegg in der Jungfrau-Region, dann wieder 700 Meter hinab in den Touristenort Grindelwald an der Eiger-Nordwand.

"Ich glaube, ich schaue mir Grindelwald nur auf der Postkarte an", hatte mein Begleiter nach der ersten anstrengenden Tagesetappe geäußert, als wir uns noch nicht an die Pedelecs gewöhnt hatten. Inzwischen hat ihn der sportliche Ehrgeiz gepackt. Das Genussradeln unterfordert ihn, immer häufiger schaltet er die Tretunterstützung gar nicht erst an. "So müssen sich gedopte Sportler fühlen", sagt er schlecht gelaunt. "Die können sich ja bestimmt auch nicht richtig über ihre Leistung freuen." E-Bike-Fahrer, die Betrüger in den Bergen? Mein Begleiter geht dazu über, alle Mountainbiker, denen wir begegnen, mit einem norddeutschen "Moin moin" zu grüßen. "Dann wird immerhin klar, weshalb wir mit E-Bikes unterwegs sind. Wenn wir wenigstens noch ein paar andere Pedelecfahrer treffen würden!"

Am Freitag, Tag 4 der Tour, geht dieser Wunsch in Erfüllung. Zum Wochenende hin sind mehr Radler auf den Routen des Velolands Schweiz unterwegs – und wir begegnen zum ersten Mal Fahrtgenossen. Einem Mann um die 50, der gar nicht erst aufschaut – aus E-Bike-Scham? Einer Mittvierzigerin, die beim Bergaufradeln selig lächelt. Und auf einer Bergkuppe kurz vor unserem Etappenziel Iseltwald einem etwa 70-jährigen Schweizer mit grauweißem Haarkranz und wettergegerbtem Gesicht, der vor einer Holzhütte auf einer Bank sitzt und entspannt mit seinem Freund plaudert. Mein Begleiter entspannt sich ebenfalls und freut sich über den Blick aus dem Hotelzimmer über den Brienzersee.

Wende auf 2000 Metern Höhe

Am Tag drauf dräut die Große Scheidegg. Meine Dankbarkeit für den Minimotor im Fahrrad erreicht ihren Höhepunkt. Und die echten Bergfahrer bringen uns auf der Strecke kein nachsichtiges Lächeln mehr entgegen, sondern freundliches bis neidisches Interesse. "Wir schummeln", rufe ich einer vollkommen erschöpften Frau Anfang 30 zu, die uns entgeistert anschaut, als wir sie locker überholen. Ihr Gesicht hat die gleiche Farbe angenommen wie ihre roten Locken. "Da bin ich froh", entgegnet die Mountainbikerin halb amüsiert, halb resigniert. Eine andere Bergradlerin beginnt zu lachen, als sie unsere Pedelecs sieht. "Na, das ist ja eine tolle Idee!", ruft sie. "Schau mal, Jochen, die beiden fahren Elektrovelos!" Und die blonde Mittzwanzigerin an der Rezeption im Hotel Kirchbühl in Grindelwald begrüßt uns mit: "Ah, Sie sind mit den coolen Flyern unterwegs!"

Nach dieser letzten Etappe ist die Radlerehre wiederhergestellt. Denn ohne Tretunterstützung hätte ich die Reise niemals unternommen und mir wäre eine grandiose Alpenerfahrung entgangen. Gleichzeitig hat die Flyer-Tour meine Lust aufs Bergradeln ohne Akkus und Ladegerät geweckt. Bei der nächsten Reise im Veloland Schweiz traue ich Flachländerin mich. Dann lachen auch die Bauarbeiter nicht mehr.

 

Kirsten Lange, aktualisiert 2023

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