Unterwegs auf der Rhein-Route: Mit E-Bike, Tandem und zwei Teenagern am Oberrhein und Bodensee entlang.
"Wo bleibt ihr so lange, mir ist kalt!" Wie der Igel aus dem Märchen der Grimm-Brüder steht Milena oben am Berg und wartet ungeduldig auf den Hasen – beziehungsweise ihre Mitradler. Während Mutter und Bruder auf dem Tandem noch zwischen den Weinbergen die Straße hinaufkeuchen, ist sie auf ihrem Pedelec mit E-Antrieb schon elegant die Steigung hochgeschwebt. Nun möchte sie auch wieder strampeln, um richtig warm zu werden, und bietet das E-Rad zum Tausch an. Kein Problem, der sportliche Flitzer ist nicht nur am Berg heiß begehrt. Schnell tauschen Bruder und Schwester die Plätze und es geht weiter bergauf Richtung Aussichtspunkt mit Blick übers Rheintal.
Wir sind unterwegs auf der Rhein-Route, einer der großen nationalen Radwanderwege der Schweiz. Von der Rheinquelle führt er zum Bodensee, dann am Seeufer entlang und über Schaffhausen weiter bis Basel. Wer mehr Rhein möchte, kann von Basel aus einmal quer durch Europa weiterradeln, bis der Rhein in die Nordsee mündet.
Eigentlich sollten Rheinfall und Bodensee die Hauptattraktionen der Tour sein. Aber schnell stellt sich heraus, dass die Räder mindestens genauso spannend sind wie die Landschaft. Es geht bergauf, und der 13-jährige Jurek zieht mit dem Elektrofahrrad lässig am Tandem vorbei. Hat er seiner Schwester etwa die Zunge rausgestreckt? Milena, die es sich hinten auf dem Tandem gemütlich gemacht und eher halbherzig mitgearbeitet hat, kommt plötzlich in die Gänge. "Hinterher, den kriegen wir!", schimpft sie und tritt mit aller Kraft in die Pedale. Was brauche ich ein Elektrofahrrad, wenn ich eine hoch motivierte Jugendliche hinter mir habe? Fast wie von selbst zieht das Rad den Berg hinauf – aber wie der Hase im Märchen verlieren wir auch diesen Wettkampf. Bis 45 Stundenkilometer gibt der E-Motor Jurek Rückenwind – je mehr Kraft er einsetzt, umso mehr hilft der Motor mit.
Das Elektrofahrrad ist brandneu, ein Prototyp, der noch nicht im Handel ist. Das schnittige Design sorgt bei den beiden Teenagern für Liebe auf den ersten Blick, der zugkräftige Elektromotor für anhaltende Treue. Das schwerfälligere Tandem wirkt daneben erst mal unattraktiv und stellt höhere Anforderungen an die Teamfähigkeit. "Mit Jurek auf dem Tandem? Niemals!", sagt die fast 15-jährige Milena resolut. Doch schon der erste Versuch "nur fürs Foto" zeigt, dass Tandemfahren ziemlich viel Spaß macht und der kleine Bruder als Partner auf dem Rad mindestens so zuverlässig und deutlich unterhaltsamer ist als ein Elektromotor.
Damit sind die Anfangsschwierigkeiten überwunden, und die Plätze auf den Rädern werden regelmäßig durchgewechselt. Wer k.o. ist, darf ein Stück E-Rad fahren, und wer friert, strampelt auf dem Tandem. Statt der sonst üblichen Familiendurchschnittsgeschwindigkeit von 14 km/h bringen wir es locker auf 18, manchmal sogar auf 20 km/h im Schnitt.
Reich und fleißig
Die kühlen, aber noch sonnigen Oktobertage sind nicht nur für Radtouristen ideal.
Während wir auf den glatten Wegen zwischen Wiesen und Weinbergen flott dahinradeln, arbeiten die Landwirte um uns herum auf Hochtouren. Traktoren tuckern über die Felder, Bauersfrauen rechen Heu, Landarbeiter ernten Äpfel oder schneiden Lauch, und immer wieder stehen große Apfelkisten am Wegrand, die auf den Transport in die Mosterei warten. An vielen Bauernhöfen werben Schilder für die Produkte der Saison. In den Hofläden am Weg werden frischer Apfelmost, Birnen, Äpfel und Weintrauben angeboten.
Wir haben uns keine langen Etappen vorgenommen. In drei Tagen fahren wir knapp 150 Kilometer von Zurzach am Rhein entlang über Schaffhausen und Kreuzlingen bis nach Rorschach. Doch obwohl wir früh starten, schaffen wir es kaum, vor der Dunkelheit zum nächsten Quartier zu kommen. Es gibt unterwegs so vieles, was man sich genauer anschauen möchte – nicht zuletzt den immer wechselnden Blick auf den schnell dahinströmenden Rhein und die hübschen Städtchen an seinem Ufer.
Man sieht den Orten den jahrhundertealten Wohlstand an: Die aufwändig bemalten Fassaden der Zunfthäuser und die schmucken Fachwerkhäuser strahlen mit dem Blumenschmuck um die Wette. Landwirtschaft, Fischfang und Wein haben die Region reich gemacht. Heute gehört der Fahrradtourismus zu den einträglicheren Einkommensquellen der lokalen Bevölkerung. "Im Sommer ist manchmal richtig Stau auf dem Radweg am See entlang", erzählt ein Spaziergänger. Jetzt ist es ruhig am Schweizer Ufer des Bodensees, fast ein bisschen verschlafen. Die Radwege sind leer. Nur ab und zu begegnen uns ein paar Tourenradler. In den Cafés, in denen wir uns mit heißer Schokolade und Hefewecken stärken, sitzen nur wenige Gäste. Die Saison geht hier am See eindeutig zu Ende.
Als wir die Räder nach der Tour zurückgeben müssen, fällt der Abschied schwer. "Wir haben doch noch Ferien, können wir nicht noch ein bisschen weiterfahren?", betteln die Kinder. Dass ich das noch erleben darf! Bodensee, Tandem und E-Bike – eine Liebe fürs Leben.