Oben die Berge, unten der Freibergsee: Wer hoch genug steigt, kann in der Umgebung von Oberstdorf über 400 Alpengipfel sehen.
„Ein Lied, zwo, drei, vier”, kommandiert Klaus. Mehr Absprache bedarf es nicht. Ohne weitere Vorwarnung stimmen seine Gesangsvereins-Kollegen unisono ein Seemannslied an. Auch wenn das einzige Wasser hier im Zentrum von Oberstdorf gerade von oben kommt. Die wenigen Nicht-Sänger im kleinen Touristen-Bähnchen rücken enger zusammen. Ein Herr mit grauem Bürstenhaarschnitt, der durch seine elegante Freizeitkleidung aus dem Rahmen fällt, nimmt die Hand seiner Begleiterin und hält sie ganz fest. Die beiden sind von Ulm aus nach Oberstdorf gekommen, um an dieser „Kulinarischen Tälerfahrt” teilzunehmen. Mit einem Kölner Gesangverein hatten sie offensichtlich nicht gerechnet.
Die „Kulinarische Tälerfahrt” ist ein Programmpunkt des „Oberstdorfer Naturgenusses”. Im Frühjahr und im Herbst, wenn die Hauptsaison vorbei ist und keine großen Sportevents auf dem Programm stehen, bietet der Tourismusverband seinen Gästen mit dem Naturgenuss-Programm jeden Tag ein anderes Event. Immer dreht es sich dabei um Natur, um regionale Spezialitäten oder um die Gesundheit der Gäste. Sport- und Entspannungskurse, Kräuter- oder Käsereiwanderungen oder Kochkurse zum Thema Bergküche werden angeboten – und eben an jedem Freitag im Herbst die "Kulinarische Tälerfahrt". Dabei fahren die Gäste mit dem Oberstdorfer Marktbähnchen von Berggasthof zu Berggasthof und lernen dort die Spezialitäten des Hauses kennen. Käse, Wild, hausgemachter Kuchen – bei jedem Zwischenstopp wird ein Gang des umfangreichen Tagesmenüs gereicht.
Käse direkt vom Hof
Um kurz vor halb zwölf hat sich am Treffpunkt Oberstdorf-Haus bereits eine große Gruppe versammelt. Hier gibt es zum Warmwerden einen Zwetschgen-Prosecco und eine leckere Kürbissuppe. Danach geht es mit dem Miniaturbähnchen bergauf bis zur Schwand-Alm, wo zwei lokale Käseproduzenten angesiedelt sind.
Treue Teilnehmer des Naturgenuss-Programms können die Kühe, die hier auf den Weiden stehen, schon mit Namen begrüßen. Sie waren am Vortag auf der Käsereiwanderung hier und haben sich von Senner Hans Besler in die Geheimnisse der Milchviehwirtschaft einführen lassen. Besler kommt ins Schwärmen, wenn er von seinen Kühen spricht. Zu jeder einzelnen könnte er stundenlang Geschichten erzählen. "Die Helle da oben, das ist die Britta", sagt er, "eine Wucht!" Besler zeigt auf eine Kuh, die etwas oberhalb des Sennereigebäudes wie ein Rasenmäher am Hang hin- und herweidet. "Die Britta überschreitet bald die 100000 Liter. Bei der passt einfach alles. Schauen Sie sich mal das Euter an!", schwärmt Besler.
Brittas Euter ist tatsächlich sehenswert. 50 Liter Milch bester Qualität gibt die achtjährige Kuh tagaus, tagein zuverlässig – ohne Leistungsschwankungen. Gemeinsam mit 34 anderen Hochleistungskühen liefert sie so den Rohstoff, aus dem die Sennerei Besler ihren Bergkäse macht. Jung, mittel, alt: Besler teilt große Stücke der unterschiedlich lange gereiften Käse an die Gäste aus. Damit sie auch schmecken, was er meint, wenn er sagt, dass er für seinen Bergkäse keine Industriemilch und für seine Kühe kein Silofutter braucht.
Zum Glück sind keine Veganer im Publikum, als Hans Besler den stressfreien Tod seiner Tiere rühmt. Er sagt, dass man dieses Sterben ohne Stress auch in den Fleisch- und Wurstprodukten schmeckt, die sie auf dem Hof produzieren. Man glaubt ihm, dass ihm das Wohlergehen seiner Tiere – schon aus wirtschaftlichen Gründen – ein großes Anliegen ist. Wenn Kühe glücklich sein können, dann haben sie hier sicher gute Voraussetzungen. Aber letztendlich ist Besler nicht Tierschützer, sondern Landwirt. Bringt die Kuh nicht mehr die nötige Leistung, begleitet er sie persönlich zum Schlachter.
Würde sich Besler für ein Biosiegel interessieren, wäre er bei Demeter herzlich willkommen. "Da wir bereits fast ausnahmslos ökologisch wirtschaften, könnten wir auf die zweijährige Übergangsfrist verzichten", sagt er. Allerdings hat er es auch ohne die Mehrkosten für die Bio-Zertifizierung schwer genug, die Hofproduktion zu vertreiben. Die kleinen Läden in der Region nehmen zu wenig ab, die großen zahlen zu wenig. Die von Oberstdorf Tourismus initiierte Käsewanderung ist daher eine willkommene zusätzliche Absatzmöglichkeit. Kaum einer der Besucher wandert ohne ein Stück "Mittelalten" und eine große Portion vom leckeren Hofeis weiter.
Ziegenkäse und Weißwein
Die "Kulinarische Tälerfahrt" macht heute allerdings nicht in Beslers Sennerstüble Halt, sondern bringt die Gäste zum benachbarten Alpengasthof. Auch hier wird Käse produziert – allerdings aus Ziegenmilch. Fünfzig Ziegen hält Restaurantchefin Claudia Tauscher-Kögel. Auch für sie sind die Naturgenuss-Gäste eine willkommene Möglichkeit, ihre Produkte aus hauseigener Ziegenmilch nachhaltig zu vermarkten. Das Paar aus Ulm besetzt schnell den einzigen Zweiertisch und bestellt sich zum Ziegenkäse im Speckmantel einen guten Weißwein.
An den anderen Tischen finden die unterschiedlichen Grüppchen vorsichtig zueinander. Die Kölner Sängerinnen und Sänger haben – nach dem anfänglichen Aufplustern – schnell zur Ruhe gefunden. Die Stimmung entspannt sich. Inzwischen hat sich auch der Regen vom Morgen verzogen. Rundum schälen sich die Gipfel aus den Wolken, als sich das Bähnchen aufmacht zur nächsten Etappe hinüber ins autofreie Stillachtal – Richtung Hauptgericht.
Zeit für Bewegung
Nach Hirschgulasch und Kuchenbuffet hat sich über dem Stillachtal die Sonne durchgesetzt, und der Gedanke, wieder ins Bähnchen einzusteigen, ist wenig reizvoll. Höchste Zeit, nach dem vielen Essen ein paar Kalorien abzubauen und sich die Füße zu vertreten. Da trifft es sich gut, dass die Tälerfahrt letzte Station am Fuße der Fellhornbahn macht. Von hier aus führen viele Wanderwege in alle Richtungen. Der Parkplatz ist trotz des unsicheren Wetters gut gefüllt. Die meisten Besucher haben offensichtlich die Seilbahn auf den Berg genommen. Denn folgt man dem Wanderweg bergauf, hat man die Natur schnell für sich allein. Nur wenige Minuten vom Parkplatz entfernt erlebt man eine andere Art von Naturgenuss: Ruhe, Einsamkeit, Wasserrauschen und die meditative Konzentration darauf, die Füße bei jedem Schritt auf dem steilen Weg richtig zu setzen. Bei jeder Verschnaufpause wird die Anstrengung mit immer grandioseren Rundblicken auf die umliegende Bergwelt belohnt. Man möchte einfach nur immer weiter hinauf – auch wenn der Nachmittag schon fortgeschritten ist und bald die letzte Bahn ins Tal fährt.
Im weichen Licht der tiefstehenden Herbstsonne zeigt sich das Panorama von seiner schönsten Seite. Über 400 Gipfel könne man von den Bergen rund um Oberstdorf sehen, verspricht der Reiseführer. Wenn man den Blick schweifen lässt, glaubt man das gern. Der Regen vom Vormittag liegt als Dampf über den Wiesen. Die Sonne wärmt noch genug, dass man gemütlich rasten kann. Immer wieder liegen kleine oder größere Almwirtschaften am Weg. Gemütliche Holzbänke, bunte Kissen, rundum die Berge und vor sich eine große Tasse Milchkaffee: Da ist einem zum Singen – auch wenn es nicht unbedingt Seemannslieder sein müssen.
Vielleicht doch noch ein bisschen hier ganz oben bleiben und die letzte Talfahrt sausen lassen? Noch ist es lange genug hell für den Abstieg, und dank der vielen Berg-Köstlichkeiten sind die Reserven gut gefüllt. Der Weg zurück ins Tal führt über Almwiesen, durch bunten Herbstwald und an tiefgrünen Bergseen vorbei. Statt rheinischer Sangesbrüder geben nun röhrende Hirsche den akustischen Stimmungsverstärker. Naturgenuss pur – in dieser Form nicht buchbar, aber mit ein wenig Anstrengung täglich und fast überall in dieser perfekten Landschaft zu erleben.