Keine 50 Meter von unserer Haustür entfernt biege ich in einen schmalen Weg ein, der durch eine Schrebergartenanlage führt. Schon habe ich Schotter unter den Reifen, der glatte Asphalt der Stadt liegt hinter mir. Mein Abenteuer beginnt. Wenige Kurbelumdrehungen reichen, um in eine andere Welt einzutauchen. Eine Welt ohne Terminkalender, Elternabende, Meetings, Steuererklärungen, Diskussionen über den Stand unserer Beziehung oder die Erziehung pubertierender Jungs.
Mikroabenteuer: ein Tag und eine Nacht alles hinter sich lassen
In der Bike-Szene heißt so etwas Overnighter oder auch Mikroabenteuer. Für mich sind diese kleinen Fluchten der Schlüssel zu einem ausgeglichenen Leben. Nur mein Rad, ich und das kleine Abenteuer bis zum nächsten Morgen. Von der Göttingen Südstadt, wo ich gegen 15 Uhr starte, radle ich Richtung Eichsfeld. Ganz gemütlich, erst mal Tempo rausnehmen. Mein Ziel: Entspannung. Wo ich schlafe, ergibt sich dann unterwegs. Der Anstieg zur Diemardener Warte, dem Göttinger Hausberg mit historischem Wachturm, ist im alpinen Sinne keine Herausforderung, aber nach einer abgerundeten 50-Stunden-Woche und erheblicher familiärer Friktion vor meinem Loskommen spüre ich sofort, wie der Puls beschleunigt – nicht vom Stress, sondern vom kräftigen Treten in die Pedale. „So soll es sein“, denke ich, schalte in den leichtesten Gang und kurble langsam der Anhöhe entgegen. Einen Hügel weiter plumpse ich ins Wendebach-Tal und folge ihm einige Kilometer ostwärts. Der Weg kreuzt den Bach einige Male mit kleinen Fußgängerbrücken und präparierten Flussquerungen für Forstfahrzeuge. Ich nehme lieber den direkten Weg durchs Wasser, es gluckert unter meinen Reifen – der Sound von Freiheit und Abenteuer.
Die Höhle des Einsiedlers
Nach zwei Stunden erreiche ich den Hurkutstein im Rheinhäuser Wald, eine Felsspalte, in der vor Hunderten von Jahren ein Einsiedler gelebt haben soll. Kein schlechter Platz für eine einsame Pause, die Höhle ist schließlich quasi eingewohnt. Im Anschluss geht es hoch auf die Jägersteine, eine imposante Felsformation mit ebensolchem Ausblick. Mittlerweile ist es später Nachmittag und ich mache mir langsam Gedanken übers Abendessen. Als Prolog zum Abend folgt ein Einzelzeitfahren durch den Wald zum nächstgelegenen Supermarkt – zwischen all dem beschaulichen Radeln ein testosterongetränktes, völlig überflüssiges und genau deshalb richtiges Intermezzo harten Radsports.
Vorfreude aufs Abendessen
Durch den Supermarkt in Groß Schneen streife ich im Overnighter-Modus. Ich gönne mir genau das, was mir spontan in den Sinn kommt. Heute ist es ein gutes Steak, Gemüse, Antipasti und Bier. Dabei treffe ich mal wieder auf eine Achillessehne des Overnighters: Glasflaschen und Mountainbike verstehen sich einfach nicht gut. Biergenuss und Dose aber auch nicht so recht. Am Ende gewinnt der Sicherheitsbeauftragte in mir und die Bierdosen verschwinden in den wasserdichten Radtaschen. An Fleischtheke und Kasse belasse ich es bei Bitte und Danke und genieße es, nicht reden zu müssen.
Kaum eine Tagesschau-Länge Lagerfeuer hat mein Verproviantieren im Supermarkt gedauert und fühlt sich nach den einsamen Stunden im Wald trotzdem schon fremd an. Immer wieder faszinierend, wie rasch man sich beim Radeln durch die Natur entzivilisiert.
Draußen schlafen unter wolkenlosem Himmel
Höchste Zeit also, in die Ein- und Achtsamkeit zurückzukehren. Ich radle flussaufwärts durchs Gartetal und überlege, wie der ideale Biwak-Platz für heute Nacht aussehen könnte. Der Himmel ist wolkenlos, es ist fast windstill und ich bin noch nicht allzu spät dran. Damit spricht alles für ein Biwak auf einem Hügel, mit Blick in den Sonnenuntergang und einem Platz, an dem sich gefahrlos ein Feuer zum Grillen entfachen lässt. Auf der Suche nach meinem Biwakplatz biege ich aus dem Gartetal südwärts in die Hügel ab, um auf eine Osthangseite mit Blick auf den Sonnenuntergang zu gelangen. Auf den 200 Höhenmetern machen sich die Einkäufe bemerkbar und ich komme ordentlich ins Schwitzen. Der Preis für die Mühen ist ein perfekter Biwak-Spot unterhalb einer Burgruine mit Blick auf die Hügel im Westen Richtung Weser. Mir bleibt sicher noch mehr als eine Stunde, bis die Sonne dort am Horizont hinter den Bergen verschwindet. Ausreichend Zeit fürs Nixtun. Mein Rad lehne ich an einen Baum und hole mein Spielzeug raus: eine Zwille. Dazu ein Bier. Wie ein kleiner Junge verliere ich mich darin, mit den Steinchen einen entfernten Baum zu treffen. Die Sonne ist längst untergegangen, das Feuer hat mir ein fantastisches Steak beschert und der Schlafsack ist ausgerollt. Fledermäuse kreisen ums Lager, vermutlich beutelos, denn Mücken haben den Weg hoch auf den Hügel nicht gefunden. Weil das Feuer ausreichend gesichert ist, gönne ich mir einen seltenen Luxus: aus dem Schlafsack in die Glut zu blicken und irgendwann einfach einzudämmern.
Kaffee am Lagerfeuer
Der nächste Morgen beginnt wieder mit einem Lagerfeuer. Dampfenden Kaffee kochen, meine klammen Hände wärmen, die müden Knochen strecken. Es stimmt, zu Hause schlafe ich definitiv komfortabler und tiefer. Aber mein System kommt nur draußen wirklich zur Ruhe. Wenn es mal wieder überlastet ist, weil in Büro und Familie die Hölle los ist, packe ich die Taschen und radle los. Raus aus der Stadt, irgendwo in die Natur. Das ist sie auch schon, die Kurzformel für den klassischen Overnighter. Die ist so simpel und so entspannend für Körper und Seele, dass es sie eigentlich auf Rezept geben müsste.