Wonach suchst du?

Wegweiser in einsamer Berglandschaft

Die Vielzahl der Möglichkeiten auf einem Bild / © G. Fitzthum

Piemont: Treppen in die Wildnis

Wandern im Nationalpark Val Grande

Welch ein Wunderwerk der Natur der menschliche Laufapparat doch ist! Seit Tagen sind Gelenke und Muskeln im Dauereinsatz, ohne ihren Dienst zu versagen – obwohl die Wege diesen Namen kaum verdienen. Über weite Strecken sind es eher Spuren im hohen Gras und rutschige Steinrinnen, in denen jeder Schritt bedacht sein muss.

Derart mit sich selbst beschäftigt, könnte man die umgebende Landschaft glatt vergessen. Doch sie wirkt so faszinierend fremdartig, dass man immer wieder stehen bleibt und den Blick schweifen lässt. Von der Passhöhe absteigend, tauchen wir in einen fast vollständig bewaldeten Talkessel ein, der von wildzerklüfteten Felsgraten umgürtet wird.

Selbst oberhalb der Baumgrenze fehlen beschauliche Almwiesen. Hier schlängelt sich die Trittspur durch Felder mit jungen Grünerlen, zwischen denen langstänglige Gräser und Alpenrosen einen dichten Vegetationsteppich gebildet haben. Zeichen menschlicher Erschließung sind nirgendwo auszumachen – weder Dörfer und Straßen noch Strom- und Telefonleitungen. Wäre der azurblaue Himmel nicht von Kondensstreifen durchzogen, man könnte glauben, auf einen unbewohnten Planeten geraten zu sein. Der Blick auf die Karte erlaubt jedoch keinen Zweifel: Wir sind mitten in Europa – im Bergland zwischen Domodossola und Locarno, ein paar Kilometer nördlich vom Lago Maggiore.

Ein Buch mit dem Titel "Val Grande – ultimo paradiso" hatte Mitte der achtziger Jahre erstmals auf diese Terra incognita aufmerksam gemacht. In ihm schlug der renommierte Alpinautor Teresio Valsesia vor, das "letzte Paradies" zwischen Monte Zeda und Pizzo delle Pecore unter nationalen Schutz zu stellen. Zunächst als Utopie belächelt, wurde dieser Vorschlag in verblüffend kurzer Zeit Wirklichkeit. 1992 offiziell gegründet und inzwischen auf 146 Quadratkilometer erweitert, vereinigt der "Parco Nazionale Val Grande" die weit verzweigten Wassereinzugsgebiete des Rio Pogallo und des Rio Val Grande. In Letzterem liegt auch die Kernzone, die nur zu wissenschaftlichen Zwecken betreten werden darf. Kontrolliert wird dies allerdings nicht – wie den anderen Großschutzgebieten Italiens fehlen auch dem Nationalpark Val Grande Geld und Personal.

Nationalpark-Führungen

Der Abstieg von der Bocchetta endet auf der Alm Pian di Boit, einer kleinen Insel der Zivilisation inmitten des Waldes. Drei steingemauerte Gebäude stehen hier verloren auf einem Wiesenplateau, auf dem nicht einmal ein Kuhfladen zu sehen ist. Doch der Eindruck völliger Verlassenheit täuscht: Aus zwei Kaminen quillt Rauch. Francesca Terzago, die junge Nationalpark-Führerin, ist zusammen mit ihrem Vater drei Stunden aufgestiegen, um die müden Wanderer mit Salsiccia und Polenta zu bekochen.

Wären die beiden nicht da, ließe sich nur die knarrende Tür des "bivacco" öffnen. Es ist ein karges Steinhaus mit einem rustikalen Holztisch und zwei Sitzbänken – ein Sinnbild des einfachen Lebens. Als Schlafplatz dient der obere Stock, wo man seinen Schlafsack auf dem nackten Holzboden ausbreiten muss. Wer abends nicht frieren will, muss Holz sammeln gehen und im offenen Kamin Feuer machen. Insgesamt dreißig solcher Gratislager wurden von der Parkverwaltung eingerichtet. Meist gibt es nicht einmal eine Toilette, von warmem Wasser und Duschmöglichkeiten ganz zu schweigen.

Im Falle Pian di Boit haben wir die etwas komfortablere Variante gewählt und die "Società Val Grande Cooperativa" um Hilfe gebeten. Sie organisiert nicht nur Führungen durch den Nationalpark, sondern bewirtet auf Anfrage auch größere Wandergruppen. Weil wir diesen Service frühzeitig bestellt haben, steht uns die eigentliche Hütte offen, wo im Dachgeschoss wenigstens Matratzen ausgelegt sind. Nachts auf Toilette zu müssen, heißt aber auch hier, mit der Finsternis Bekanntschaft zu machen. Im Schein der Stirnlampe glänzt das regennasse Gras, im Hintergrund spiegelt sich ein Augenpaar, das blitzschnell in der Dunkelheit verschwindet. "Nachts schauen hier Füchse vorbei, um nach Speiseresten zu suchen", hatte Francesca beim Abendessen erzählt. Kein Grund zur Panik also. Wer mutig genug ist, die Taschenlampe auszumachen, erkennt im V-Ausschnitt des Tales einen schwachen Lichtschein. Dort unten liegt das Gegenstück zum Niemandsland von Pian di Boit – die dicht bevölkerte Lago-Maggiore-Region, zwei Tagesetappen entfernt – eine Welt, in der es niemals wirklich dunkel wird.

Natur wie in den Anden

In Pian di Boit kreuzen sich keine Wege. Weil wir nicht über die Bocchetta di Terza ins Vigezzo-Tal zurücksteigen wollen, müssen wir dem rot-weiß markierten Pfad weiter talabwärts folgen. Die nächsten zwei Stunden zieht eine Karawane bunter Regencapes durch einen verwunschenen Buchenwald, der von großen, bemoosten Felsen durchsetzt ist.

Die Vorstellung, dass die Natur ein Ort absoluter Stille ist, hat sich längst als Illusion erwiesen: Der nahe Rio Pogallo rauscht so laut, dass man sich nur noch in Zeichensprache verständigen kann. Durch den Regen der letzten Tage ist der Wildbach bedrohlich angeschwollen. Weiter unten ist der Hang so steil, dass kein geschlossenes Blätterdach die Sicht versperrt. Der Blick fällt auf eine Szenerie, die genauso gut in den Anden liegen könnte: Auf allen Seiten tosen hohe Wasserfälle über steilste Felsenwände herab. Der feine Nebel, der über dem Flussbett schwebt, macht die Landschaft noch märchenhafter, als sie ohnehin schon ist. Wir sind da, wo wir hin wollten: In einer Welt ohne Zeit – ein Reich der Natur, das nicht mit Wegweisern, Infotafeln und Picknickabfällen entstellt ist, sondern gänzlich unberührt in sich selbst ruht.

Eine halbe Stunde später stehen wir am Saum einer großen Wiese, an deren oberem Ende eine Hausruine vor sich hin dämmert. Im Hintergrund, erst auf den zweiten Blick erkennbar, ducken sich zwei Dutzend Steinhäuser an den Hang. Niemand hat etwas von Pause gesagt, aber alle bleiben stehen und genießen das pastorale Idyll. Wie schön die Menschenwelt doch ist, wenn man sie zwei Tage nicht gesehen hat!

Patrick Stocco hat eine plausible Erklärung für die in den Gesichtern stehende Erleichterung: "Als Kulturwesen können wir Waldlandschaften kaum etwas abgewinnen", sagt der staatlich ausgebildete "Accompagnatore naturalistico". "Instinktiv wählen wir Pausenplätze im offenen Gelände, und selbst dort, wo wir keines finden, setzen wir uns zur Rast wenigstens auf ein Felsenplateau am Fluss, um dem Gefühl des Ausgesetztseins zu entkommen."

Pogallo

Von allzu viel Zivilisation wird man in Pogallo allerdings nicht bedrängt. Nicht einmal Jacko ist heute da, der einzige Bewohner des Dorfes. Immerhin neun Monate des Jahres lebt er an diesem Ende der Welt. Im Frühjahr lässt er sich Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände mit dem Helikopter herauffliegen, den Rest schleppt er auf dem Rücken, eineinhalb Stunden zu Fuß vom Dörfchen Cicogna, an dem die Fahrstraße endet – vier Kilometer von hier.

Dass in Pogallo einmal fünfhundert Menschen lebten, ist kaum zu glauben. Doch von hier aus wurde der Großraum Mailand jahrhundertelang mit Bau- und Brennholz versorgt. Mit der Industrialisierung erreichte die Nachfrage nach dem natürlichen Energieträger dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihren ersten Höhepunkt. Ähnlich den Goldgräbersiedlungen des Wilden Westens hatte Pogallo nun mehrere Wirtshäuser, einen Einkaufsladen, Kirche und Schule und sogar eine Polizeistation. Arbeitgeber der "Boscaioli" war ein Schweizer Unternehmer, der die Holzwirtschaft umfassend modernisierte und das Prinzip der Wiederaufforstung einführte. Zum Abtransport ließ Carlo Sutermeister die ersten Transportseilbahnen bauen, die mit Elektromotoren betrieben wurden. Erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als der Kampf gegen das billigere Importholz verloren war, wurden die Anlagen abgebaut.

Von Wildnis konnte in der Val Grande also noch vor zwei Generationen keine Rede sein. Die meisten Hänge waren damals kahl vom jahrhundertelangen Raubbau. Was dem heutigen Besucher als urwüchsige Natur erscheint, ist größtenteils Sekundärvegetation mit Pionierpflanzen wie Birke, Eberesche, Bergahorn und Goldregen. Wer dies nicht weiß, übersieht die menschliche Geschichte, die in der vermeintlichen Wildnis steckt. Die Schnelligkeit, mit der sich die unteren Lagen neu bewaldet haben, ist dabei kein Zufall: Lange Trockenphasen, die das Pflanzenwachstum hemmen, sind rund um den Rio Val Grande unbekannt. Nirgendwo sonst in Zentraleuropa fällt so viel Niederschlag wie hier, im Südstau der Alpen, immerhin 2200 bis 2500 Millimeter im Jahr.

Die "Strada Sutermeister"

Sutermeisters Ingenieure hatten aber auch im Wegebau Maßstäbe gesetzt. Damit die mehrheitlich aus dem Veltlin und den Bergamasker Alpen stammende Belegschaft nicht immer über die 1100 Meter hoch gelegene Alpe Pra nach Pogallo gehen musste, ließ er in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts einen so spektakulären wie bequemen Weg durch die Schlucht anlegen. Im steilsten Teil des Canyons besticht die "Strada Sutermeister" durch eine verwegene Stahlkonstruktion, in der die Steinplatten frei aufgehängt über dem Abgrund schweben.

Auch der von der Alpe Pra ins Tal führende Saumpfad ist gut ausgebaut. Im oberen Teil besteht er aus großen Steinplatten, die treppenartig aneinander gefügt wurden. Querrinnen sorgen dafür, dass kein Wasser auf dem Weg fließt und ihn damit zerstört.

Cicogna, der letzte bewohnte Ort

Am unteren Ende der zahllosen Kehren liegt Cicogna, der einzige noch ganzjährig bewohnte Ort im Innern des Nationalparks. Doch auch hier sind die meisten Fensterläden geschlossen. Nur noch zwei Dutzend Menschen bewohnen das stattliche Haufendorf. Die wenigen, die noch nicht pensioniert sind, pendeln jeden Morgen das schwindelerregende Teersträßchen nach Verbania hinunter. Lediglich zwei Familien verdienen ihr Geld noch vor Ort. Die eine mit einer Bar und einem "Bed and Breakfast", die andere versucht es mit einem Agriturismo-Betrieb, einem bäuerlichen Gasthaus, in dem selbst hergestellte Lebensmittel auf den Tisch kommen. Rolando, der Besitzer, hat eine stattliche Ziegenherde, verkauft leckeren Käse und ist auf die Parkverwaltung nicht gut zu sprechen. Für die Menschen, die hier leben, werde rein gar nichts getan. Schon gar nicht für die Bauern, die für die Erhaltung des Landschaftsbildes unentbehrlich seien. "Von Landwirtschaft haben die da oben überhaupt keine Ahnung", schimpft er.

Tatsächlich wird der wirtschaftende Mensch im Nationalpark eher als Störgröße betrachtet. Im Unterschied zu anderen europäischen Großschutzgebieten, die Naturschutz und menschliche Nutzung in Einklang zu bringen versuchen, fühlt man sich dem aus den USA stammenden "Wilderness"-Konzept verpflichtet. Statt um ihrer selbst willen geschützt zu werden, soll die sich selbst überlassene Natur allen Interessierten als Erlebnis- und Erholungsraum offenstehen. Andere als freizeitmäßige Nutzungsformen sind aber so unerwünscht wie der Bau neuer Verkehrswege, die den Zugang zum Nationalpark erleichtern könnten. Um in sein Zentrum vorzudringen, muss man stundenlang zu Fuß gehen, egal, von welcher Seite man kommt.

Zwiespältiges Nationalpark-Konzept

So durchdacht und angemessen die Strategie des Nationalparkverwaltung auch scheint, inzwischen erweist sie sich als doppelt riskant: Durch die Geringschätzung der lokalen Ökonomie hat sie den Rückhalt der Bevölkerung so sehr verloren, dass manche Parkgemeinden ihre Beteiligung aufkündigen wollen, was die Akzeptanz des Nationalparks auch bei den anderen reduzieren dürfte. Zum anderen könnte das Terrain immer undurchdringlicher werden und damit auch seine touristische Valenz verlieren.

 

von Gerhard Fitzthum

Mehr Informationen

Mehr Informationen zum Nationalpark Val Grande finden Sie unter www.parcovalgrande.it

In Italien gibt es derzeit 25 Nationalparke. Insgesamt stehen so 1,5 Millionen Hektar unter Schutz, dies entspricht fünf Prozent der Landesfläche.

Fernwandern in Italien

Vier Gründe, die Italien zum idealen Ziel für längere Wandertouren machen:

1. Auch das entlegenste und schon quasi entvölkerte Dorf wird noch täglich von einem Bus angefahren. Das sorgt auch in einsamen Gegenden für eine gewisse Flexibilität bei der Routenplanung.

2. Die Preise im italienischen Hinterland sind – verglichen mit Städten und Küste – überraschend güns-tig. In einfachen Wanderunterkünften zahlt man für eine Übernachtung mit üppigem Abendessen und Frühstück häufig unter 30 Euro. Und da sind wir auch schon beim dritten Vorteil:

3. Das Essen ist – auch in einfachen Gasthäusern und in Privatunterkünften – in der Regel sehr gut. Gerade im ländlichen Raum versorgen sich viele Kleinstbetriebe selbst, bauen eigenes Obst und Gemüse an und kochen regionale Gerichte. Zu essen gibt es reichlich, zu trinken auch und das alles zu guten Preisen.

4. Einsame Natur und belebte Küste, Berge und Meer liegen in Italien ganz nah beieinander. So kann man Wander- und Strandurlaub genauso verbinden wie Natur- und Kultururlaub.