Da stehen wir also auf der ersten von drei Ruhrpotthalden, die wir heute mit dem Gravelbike erklimmen wollen. Die Beine sind schon mal warm, das Unterhemd nassgeschwitzt, der Blick schweift weit übers Ruhrgebiet. Wir sehen Fördertürme, Schornsteine – und jede Menge Grün. Es könnte stimmen, was wir gehört haben: Dass sich das Ruhrgebiet vom einstigen Kohlenpott zu einem durchaus attraktiven Naherholungsgebiet gemausert hat. Gerade die Halden, der Schutt der Vergangenheit, sollen heute auf attraktive Weise Sport und Kultur verbinden. Im sonst eher flachen Ruhrgebiet bieten die über Jahrzehnte aufgeschütteten Berge die nötigen Höhenunterschiede fürs Gravelbike-Abenteuer.
Halde Haniel: Ruhrgebiet per Gravelbike
Nach Anreise mit der Bahn steigen wir in Oberhausen-Sterkrade auf unsere Räder. Nur gut fünf Kilometer sind es bis zum Fuße der Halde Haniel. Mit 126 Höhenmetern ist der erste direkt der höchste Anstieg des Tages. Wir nehmen den Kreuzweg, der sich in Serpentinen nach oben schlängelt. Er verbindet die Leidensgeschichte Jesu mit der Bergmannstradition. Die Stationen entlang des Weges sind willkommene Pausen auf dem durchaus kräftezehrenden Anstieg, den man am besten mit einem Gravel-, MTB- oder E-Trekkingbike in Angriff nimmt. Hier ein Teufkübel, dort ein Presslufthammer, dann ein Grubenwagen – doch erst auf dem Gipfel erwartet uns das wirkliche Highlight: die Installation des baskischen Künstlers Augustín Ibarrola. Bunte Bahnschwellen stecken im Kraterrand, der die Halde an einen Vulkan erinnern lässt. Gleichzeitig fühlen wir uns in der baumlosen, erodierten Gegend wie auf dem Mond. Am Grund des Kraters wartet ein kreisrundes Amphitheater darauf, mal wieder eine Kulturveranstaltung beherbergen zu dürfen. Die Atmosphäre hier oben ist faszinierend und befremdlich zugleich.
Für die versprochene „beste Currywurst der Stadt“ am Fuße des nächsten Abraumbergs ist es uns noch zu früh am Morgen. Der Name der „Halde Beckstraße“ ist weit weniger bekannt als der Tetraeder, das Wahrzeichen Bottrops, das obendrauf steht. Die fast 400 Stufen hinauf auf die Halde bleiben uns zum Glück erspart – wir nehmen einfach die Fahrstraße, die asphaltiert und mit einstelligen Steigungsprozenten nach oben führt. Aber den 200 Stufen des Tetraeders stellen natürlich auch wir uns – ohne Räder. Ein bisschen schwindelfrei sollte man in der luftigen Höhe schon sein, aber die Aussicht und die Perspektiven, die der Koloss aus 210 Tonnen Stahl erlaubt, lohnen die Mühen.
Industriekultur: Bergwerk Prosper-Haniel
Wenig später passieren wir das Bergwerk Prosper-Haniel, das 2018 als letztes Steinkohle-Bergwerk des Ruhrgebiets geschlossen wurde. Ein großer Einschnitt für die ganze Region, denn damit war die Steinkohleförderung in Deutschland Geschichte – und für uns erst mal das Thema Bergbau, denn die nächsten 20 Kilometer stehen unter dem Motto „Wasser“. Erst folgen wir der Emscher, dann dem Rhein-Herne-Kanal und schließlich der Ruhr. Immer am Wasser entlang, ist es herrlich ruhig und so idyllisch, wie es an einem Schifffahrtskanal halt sein kann.
Als sich Hunger breitmacht, verlassen wir die geplante Route kurz, um uns in einer Bäckerei zu stärken. Die Blechlawine, in der wir unvermittelt landen, erinnert uns unverkennbar daran, dass wir in einem echten Ballungsraum unterwegs sind. Zum Glück sind wir das Verkehrschaos, nach Kaffee und Kuchen zurück am Kanal, genauso schnell wieder los. Spätestens auf dem kurzen Stück, das wir wenig später der Ruhr folgen, sind wir endgültig zurück im Grünen. Durch den Raffelbergpark geht es in den Duisburger Stadtwald, und schon sind wir mitten in der Sechs-Seen-Platte. Das beliebte Naherholungsgebiet umfasst ganze 283 Hektar. Spazierende genießen die letzten Spätsommer-Sonnenstrahlen, Schiffchen präsentieren ihre weißen Segel vor dem strahlend blauen Himmel. Urlaubsfeeling!
Tiger & Turtle: Zu Fuß über die Achterbahn
Nach 60 Kilometern erreichen wir unsere letzte Landmarke des Tages: Tiger & Turtle. Die begehbare Achterbahn-Skulptur, entworfen von Heike Mutter und Ulrich Genth, wurde anlässlich der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 errichtet. Besonders eindrucksvoll ist sie im Dunkeln, wenn sie von 880 LEDs beleuchtet ist. So viel Zeit haben wir heute leider nicht mehr. Stattdessen radeln wir Richtung Rhein und nach Düsseldorf, um dort noch vor Einbruch der Dunkelheit in den Zug nach Hause zu steigen.